„Finale oho“: Deutschland schockt Brasilien mit 7:1
Belo Horizonte (dpa) - Unfassbar! Phänomenal! Weltmeisterlich! Nach der spektakulärsten Fußball-Darbietung in der deutschen WM-Geschichte trennt Joachim Löw und seine noch ungekrönten Helden nur noch ein Schritt vom vierten Titelgewinn.
Für DFB-Boss Wolfgang Niersbach war es „Fußball vom anderen Stern“, der überragende Toni Kroos sprach von einem „unglaublichen und tollen Spiel. Auf den Tag genau 24 Jahre nach dem letzten WM-Triumph in Italien versetzte die gereifte Generation um den nun alleinigen WM-Rekordschützen Miroslav Klose (16 Tore) mit einem sensationellen 7:1 (5:0) im Halbfinale ganz Brasilien in einen Schockzustand. Im Endspiel am Sonntag im mystischen Maracanã in Rio gegen den Erzrivalen Holland oder Argentinien, das Deutschland 1990 in Rom mit 1:0 besiegen konnte, geht es aber wieder bei Null los.
„Sensationell, märchenhaft, das ist alles zu schwach. Das war heute etwas Historisches. Jetzt wollen wir natürlich auch noch den letzten Schritt machen“, befand der euphorisierte Verbandspräsident Niersbach im ZDF. „Ich kann mich nicht an so ein Halbfinale erinnern. Aber es ist noch nichts erreicht. Wir können uns nichts dafür kaufen, egal ob 7:1 oder 2:1. In ein Finalspiel geht man wieder mit 50:50 rein“, betonte DFB-Teammanager Oliver Bierhoff.
Auch Bundestrainer Löw bemühte sich nach dem zweithöchsten deutschen WM-Sieg und dem bisher klarsten Erfolg in einem WM-Halbfinale überhaupt um Bodenhaftung. „Ein bisschen Demut tut jetzt auch gut. Wir wollen nicht überbewertet sein“, meinte der Bundestrainer. „Jetzt müssen wir noch einmal durchziehen, Vollgas geben und uns das Ding holen“, kommentierte Thomas Müller den achten Einzug einer deutschen Elf ins WM-Finale. Nach seinem fünften Turniertor zum 1:0 (11.) hat der Münchner die Chance, wie 2010 WM-Torschützenkönig zu werden.
„Wir sind wirklich eine Einheit, und das sieht man auch auf dem Platz“, betonte der 36 Jahre alte Klose, der mit seinem Rekordtor vor 58 141 Zuschauern den Brasilianer Ronaldo (15) als besten WM-Schützen überflügelte. Für die in der ersten Hälfte wie im Rausch spielenden schwarz-rot-goldenen Kicker trafen außerdem noch die Antreiber Kroos (24./26.) und Sami Khedira (29.) sowie der eingewechselte André Schürrle (69./79.). Oscar verkürzte erst in der 90. Minute. „Wichtig wird jetzt sein, sich schnell auf das Finale zu fokussieren“, forderte der zur zweiten Halbzeit eingewechselte Per Mertesacker.
Gegen kollektiv versagende Brasilianer, die die Ausfälle von Superstar Neymar und Kapitän Thiago Silva nicht verkraften konnten und die höchste Niederlage ihrer Länderspiel-Geschichte kassierten, spielte die deutsche Startelf ihre Erfahrung von 681 Länderspielen aus. „Finale, oho“, skandierten die deutschen Fans, während die Spieler der Seleção von ihren Landsleuten ausgepfiffen wurden.
Brasiliens Coach Luiz Felipe Scolari bat seine Landsleute nach dem Debakel um Verzeihung. „Das ist die schlimmste Niederlage aller Zeiten. Das Leben geht weiter, auch mein Leben geht weiter. Das Ergebnis fällt auf mich zurück, ich bin der Verantwortliche. Dem brasilianischen Volk möchte ich sagen: Bitte entschuldigt diese Niederlage“, sagte der Weltmeister-Trainer von 2002.
Der zum Man of the Match gekürte Kroos erwies sich in seinem 50. Länderspiel nicht nur erneut als Meister des ruhenden Balls, sondern auch als eiskalter Vollstrecker. Der Eckball des vor dem Absprung zu Real Madrid stehenden Münchners leitete das sechste deutsche WM-Tor nach einer Standardsituation ein. Der 24-Jährige kurbelte gemeinsam mit Khedira im Mittelfeld unermüdlich an und sorgte mit dem zweiten Tor-Doppelpack im DFB-Trikot früh für klare Verhältnisse.
Bei angenehmen Temperaturen knapp über 20 Grad ließ sich die deutsche Mannschaft aber von dieser Atmosphäre und der fast komplett in Gelb getauchten Kulisse nicht einschüchtern. Die erste erfolgversprechende Kombination über Müller und Özil brachte in der 8. Minute Khedira im Strafraum in Schussposition, Kroos blockte den Versuch des Wahl-Spaniers unglücklich mit dem Rücken ab. Drei Minuten später führte wie schon im Viertelfinale gegen Frankreich eine Standardsituation zur Führung. Beim ersten deutschen Eckball durch Kroos stand Müller völlig frei und konnte sich bei seinem insgesamt zehnten Tor bei einer WM-Endrunde die Ecke aussuchen.
In der Folgezeit wurden den Brasilianern vom DFB-Team immer häufiger ihre spielerischen Grenzen aufgezeigt - auch der für den gesperrten Thiago Silva ins Team gerückte Bayern-Profi Dante konnte das sich nun abzeichnende Debakel nicht verhindern. Eine traumhafte Ballstafette über Kroos und Müller leitete das 2:0 durch Klose ein, der im ersten Versuch noch an Julio Cesar scheiterte, ehe er im Nachsetzen flach in die Ecke traf. Das 16. Endrunden-Tor des Team-Seniors leitete eine Gala der deutschen Mannschaft ein, in der den Brasilianern binnen weniger Minuten Hören und Sehen verging.
Kroos mit einem Doppelschlag binnen kaum mehr als 60 Sekunden und Khedira jeweils nach traumhaften Kombinationen schossen mit ihren Treffern fast im Minutentakt gegen völlig demoralisierte Gastgeber ein rekordverdächtiges 5:0 heraus. Fünf Tore in den ersten 29 Minuten waren der DFB-Auswahl nicht einmal gegen San Marino gelungen, wo es am 6. September 2006 im dritten Länderspiel der Ära Löw am Ende 13:0 hieß. Während bei vielen in Gelb gekleideten Fans bittere Tränen der Enttäuschung flossen, waren die deutschen Anhänger schier aus dem Häuschen und sangen: „Einer geht noch, einer geht noch rein“. Auch Ex-Bundestrainer Jürgen Klinsmann war hingerissen und twitterte begeistert: „Deutschland hat heute WM-Geschichte geschrieben! Großes, großes Kompliment! So stolz auf sie!“
Für den an einer Sehnenreizung in der Kniekehle laborierenden Mats Hummels rückte nach der Pause Mertesacker in die Abwehrkette, die gegen Brasiliens bis dahin harmlose Offensive auf einmal Chancen zuließ. Doch Manuel Neuer hielt gegen Ramires (51.), Oscar (52.) und zweimal Paulinho (53.) seinen Kasten sauber. Löw reagierte an der Seitenlinie ungehalten auf die Nachlässigkeiten. Danach besann sich das Team wieder aufs Fußballspielen und machte schließlich durch Schürrle, der einen Pass von Kapitän Philipp Lahm über die Linie drückte, das halbe Dutzend voll. Zehn Minuten später stand Schürrle erneut frei und machte die historische Pleite der Seleção perfekt.