Impulsive Latino-Leidenschaft bewegt WM
Porto Alegre (dpa) - Die Fußball-Welt lernt bei der WM am Zuckerhut ihre Latino-Lektion und ist erstaunt, entzückt aber auch erschrocken über die überbordende Leidenschaft der Fans aus den Ländern Südamerikas.
50 000 Chilenen in Rio de Janeiro, 60 000 Kolumbianer in Belo Horizonte und jetzt eine Invasion von 100 000 Argentiniern in Porto Alegre? Beim Brasilien-Turnier sorgen sie in riesiger Zahl für farbenfrohe Bilder der Freude. Spätestens seit dem Chilenen-Sturm ins Pressezentrum des Maracanã geht bei FIFA und Brasiliens WM-Machern aber die Sorge um. Schnell kann bei der Mammutparty die positive Stimmung kippen und dem bisher überwiegend positiven WM-Image gravierende Kratzer verpassen.
Intensiv wird für das Argentinien-Spiel am Mittwoch gegen Nigeria an einem Sicherheitskonzept für die Millionenmetropole Porto Alegre gearbeitet. Während das WM-OK keine Details der großen Operation nennen wollte und auch die Zahl der erwarteten Fans aus dem Nachbarland mit 50 000 eher defensiv quantifizierte, beschrieb Oberst Silanus de Oliveira Mello, Stellvertretender Chef der mittlerweile immer präsenteren Militärpolizei, die Anforderungen an seine in Vollmontur martialisch wirkende Truppe.
„Wir werden unsere Kräfte in einigen Zonen verstärken müssen.“ Das Ministerium für innere Sicherheit im Nachbarland nannte die imposante Zahl von 100 000 Argentiniern, die sich auf den Weg nach Porto Alegre machen. Die Stadt ist rund 600 Kilometer von der argentinischen Grenze entfernt. Der beste Anreiseweg per Straße führt von Buenos Aires um Uruguay herum über rund 1000 Kilometer in den südlichsten WM-Spielort. Quasi ein Katzensprung für viele Fans der Albiceleste, die erstmals seit dem Heimturnier 1978 Südamerika nicht verlassen müssen, um ein WM-Spiel ihrer vergötterten Auswahl zu sehen.
Knapp 43 000 Zuschauer passen in das Estádio Beira-Rio - Zehntausende werden ohne Karten in der Stadt das Spiel verfolgen - darunter, so befürchten die WM-Macher - viele „Barras bravas“. Die gewaltbereiten und äußerst organisierten Hooligans sorgen im argentinischen Fußball immer wieder für Negativschlagzeilen. In Belo Horizonte prügelten sich „Aficionados“ aus Argentinien mit Brasilianern.
In Porto Alegre wurde ein Pressetermin zur Vorstellung eines gepanzerten Polizeifahrzeugs, das gegen Demonstranten eingesetzt werden kann und über einen Wasserwerfer mit 60 Meter Reichweite verfügt, kurzfristig und ohne Angaben von Gründen abgesagt.
Das alles friedlich und fröhlich sein kann, haben die Fans aus Südamerika schon bewiesen. Auch die große Anzahl der Chilenen in Rio de Janeiro war eine freundliche Partymeute. Viele der 87 letztlich festgenommenen Eindringlinge ins Maracanã wussten wahrscheinlich nicht so genau, was sie da taten. Die Sehnsucht beim WM-Spiel gegen Spanien dabei zu sein, ließ sie gewaltsam ins Stadioninnere stürmen. Der Presseeingang war die Schwachstelle im Milliarden-Sicherheitssystem.
Ohne Zwischenfall kamen die Kolumbianer aus. Die Probleme in Belo Horizonte waren nach dem friedlichen Einfall der Caféteros anderer Natur. Am Tag nach dem Spiel gegen die Elfenbeinküste gab es kein Bier mehr. „Die Kolumbianer haben alles weggetrunken“, berichtete achselzuckend Jorge Mineiro, der Betreiber einer Bar im Hotel-Viertel von Brasília. Auch an der Tankstelle gegenüber war „cerveja“ ausverkauft, nachdem die kolumbianischen Fans gefeiert hatten.
Viele haben seit Jahren darauf gespart, nach Brasilien zu fahren. Wer sich die während der WM sündhaft teuren Hotels nicht leisten kann, übernachtet in Zelten oder in Bussen. Die Copacabana in Rio de Janeiro wurde zu einem Auto-Schlafparkplatz für Hunderte Chilenen.
Die Masse der Südamerikaner ist friedlich, freundlich und feierfreudig. Sie tanzen in den Bars und Restaurants, treiben den Absatz der lokalen Biermarken wie „Antarctica“, „Brahma“ oder „Skol“ kräftig in die Höhe. Kolumbianer und Ecuadorianer fallen vor allem durch ihre gelben Trikots auf. Sie prägen vor und an den Spieltagen ihrer Mannschaften die Straßen, Strände und Stadien. Kolumbiens Verbandspräsident sprach vom „fiebre amarilla“. Die Folgen dieses „gelben Fiebers“ sind in ganz Brasilien zu spüren.