Turniertrainer Löw im Tunnel: Chef mit sensiblen Antennen

Watutinki (dpa) - Bei vielen seiner Trainerkollegen geht der Puls jetzt steil nach oben. Und auch Joachim Löw kann sich der Anspannung vor dem Start am Sonntag gegen Mexiko als Weltmeister-Coach schwerer entziehen als vor vergangenen Turnieren.

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Hektik oder den ganz großen Druck fühle er vor seinem siebten Turnier als Bundestrainer jedoch nicht, versicherte der Südbadener. „Ich weiß mittlerweile genau, was mich erwartet und was so alles passieren kann“, sagte Löw: „Es gibt nichts Schöneres als eine WM und die Fifty-fifty-Spiele. Ich freue mich an Wettkämpfen. Da fühle ich mich energiegeladen.“

Die Planungen bis zum angestrebten Finale am 15. Juli stehen. Sein angewachsener Bizeps zeigt, dass er auch selbst in bester Verfassung in die WM geht. Der 58-Jährige hat sich fitgemacht für den nächsten Auftritt auf der größten Fußballbühne, auf der er inzwischen ein weltweit bewunderter Überflieger ist, obwohl er in den Stadien nicht wie Lionel Messi, Neymar oder Cristiano Ronaldo gegen den Ball tritt.

Deutschlands Star heißt Löw, geboren in Schönau im Schwarzwald. Ganz Deutschland diskutiert nun wieder über diesen Mann mit dem vollen schwarzen Haar, das erstmals einen grauen Schimmer trägt. Wenn er auf öffentlichen Plätzen, Flughäfen oder Bahnhöfen angesprochen oder gar gefeiert wird, würde er sich oft am liebsten in Luft auflösen. „Es gibt noch weitaus wichtigere Positionen und Menschen als mich. Das weiß ich schon richtig einzuschätzen“, sagte er.

In der Mannschaft und im kompletten WM-Tross ist Löw der Boss - und zwar ein geschätzter. Der Bundestrainer bestimmt nicht nur die sportliche Linie und jede Einzelheit im Gefüge. Er legt auch sensibel die Drähte zu seinen Spielern. Sein helles Trainerzimmer in Watutinki hat eine gemütliche Terrasse zum Plauschen.

„Im zwischenmenschlichen Bereich ist er genauso angenehm geblieben, wie ich ihn 2010 kennengelernt habe. Als Trainer hat er sich absolut entwickelt. Was ganz normal ist, wenn du immer offen bist für neue Einflüsse“, berichtete Toni Kroos, Löws Stratege auf dem Platz.

Es ist eines von Löws Geheimnissen, warum er auch international einer der angesehensten Fußball-Lehrer ist. Große Vereine wie Real Madrid buhlen immer wieder um ihn - vergeblich. Der Bundestrainerjob ist für ihn „eine ständige Fortbildung“. Aus seiner bittersten Stunde, dem verlorenen EM-Halbfinale 2012 gegen Italien, hat er ebenso gelernt wie aus dem WM-Triumph 2014 in Brasilien. „Es gibt bei uns keine Routine, es gibt Erfahrung. Wir versuchen das, was wir seit Jahren machen, mit neuen Einflüssen zu mischen“, sagte der Chefcoach.

Seitdem Löw 2006 das Bundestraineramt von seinem damaligen Chef Jürgen Klinsmann übernommen hat, erreichte das DFB-Team bei jeder EM oder WM mindestens das Halbfinale. Von 36 Turnierpartien unter ihm gingen nur sechs verloren - aber 26 wurden gewonnen. Für Russland ist das Ziel Titelverteidigung verkündet. In der Zeit der Vorbereitung und des Turniers selbst schmiedet Löw die wichtigen Bündnisse mit seinen Spielern und zu seinem großen Stab. „Die Verbindungen werden enger. Man redet mehr, man wächst zusammen. Die Arbeit mit der Gruppe ist für mich inspirierend“, verriet er.

Kurz vor dem Anpfiff im Luschniki-Stadion am Sonntag gegen Mexiko steckt Löw wieder im Tunnel. Alle Nebensächlichkeiten blendet er aus. Mit einer Wagenburg im Quartier vor den Toren Moskaus versucht er, alle negativen Energien fernzuhalten. Der Teamspirit ist für ihn neben der letzten physischen und taktischen Schulung seines Personals das Wichtigste. „Das muss ich als Trainer schaffen, jedem Spieler das Gefühl zu geben, er hat eine Aufgabe und spielt eine wichtige Rolle in der Gruppe“, beschrieb der Chef seine Herangehensweise.

Die Spieler honorieren das. „Die Gelassenheit, die er mitbringt, tut der Mannschaft unglaublich gut. Gleichzeitig das Zielstrebige. Er ist nicht mehr so verbissen. Er weiß, was er kann. Er weiß aber auch, was er der Mannschaft übermitteln kann“, erzählte der erfahrene Profi Sami Khedira. Der Bundestrainer bestätigte seine persönlichen Veränderungen: „Unseren roten Faden verlassen wir nie. Aber in einigen Situationen sind manchmal andere Inhalte gefragt.“

Wer Löw einmal folgt und zu Erfolgen verhilft, kann sich auf die Treue des Bundestrainers verlassen, auch in schwierigen Situationen. Seinen Brasilien-Sieger Manuel Neuer stellt er trotz monatelanger Verletzungspause als Nummer 1 ins Tor. Mesut Özil bekommt trotz der Erdogan-Affäre weiter die Kreativrolle im Team. Überhaupt macht Löw die Weltmeister von 2014 vier Jahre später nochmals zu den Hauptdarstellern. Risiken blendet er aus.

Löw sieht sich nicht „nur“ als Titeltrainer. Er fühlt sich auch als Visionär. Den deutschen Rumpelfußball hat er beerdigt. Er prägte den neuen deutschen Fußballstil. Etwa bei der WM 2010, als er bei der Spielerauswahl plötzlich jugendliche Frische über Erfahrung stellte. Oder 2014, als er eine Viererkette mit vier Innenverteidigern formierte und damit Weltmeister wurde. Die nächste Generation in seinem Team hat er schon mit herangezogen.

Etwas auszuprobieren wie beim Confed Cup im Vorjahr - das ist Löws Welt, darin sieht er auch den Vorteil seines Jobs im Vergleich zu einem Vereinstrainer. Doch über allem steht - bei einer WM noch mehr - seine höchste Prämisse: „Messlatte ist die absolute Weltklasse.“