Handball WM Der neue Zusammenhalt im deutschen Handball

Köln · Die deutschen Handballer präsentieren sich bei der Heim-WM wieder als Einheit – das kann sie jetzt nach dem 24:19-Sieg gegen Island in Köln tatsächlich weit bringen.

Die Mannschaft von Deutschland bildet einen Kreis nach dem Sieg.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Als sie kamen, standen alle auf, klatschten, blickten einander gerührt an. Vorne Joachim Deckarm, der behinderte Handball-Weltmeister von 1978, der beim Handball bei einem Europacupspiel 1979 auf einen Betonboden aufgeschlagen und danach nicht mehr derselbe war, hinten der hüftoperierte Heiner Brand, die deutsche Handball-Legende, das ganze Team war gekommen. Es gab eine Torte für Deckarm zum 65. Geburtstag, ein rühriges Ständchen der mehr als 19000 Zuschauer in der Arena und ein Trikot der aktuellen Nationalmannschaft. Deckarm lächelte. Dann waren sie wieder weg, aber das gute Gefühl blieb. Das Spiel in Köln gegen Island, der 24:19-Sieg in der Hauptrunde, das Arrangement des Abends und der Bogen nach 1978 mit dem fröhlichen Deckarm, es hätte alles nicht viel besser abgestimmt sein können.

So oft, wie der Fußball dieser Tage kritisch beäugt wird, so sehr gewinnt der Handball an Fahrt und Achtung. Friedliche und begeisterte Fans, faire, temporeiche Spiele, Typen, Tore, Torten. Und vor allem: eigener Enthusiasmus. „Natürlich können wir hier etwas richtig Großes schaffen, wenn wir uns noch ein bisschen steigern“, sagte Andreas Wolf, der Handball-Torwart, nach dem Sieg gegen Island in den Katakomben der gewaltigen Kölner Arena. Es war sein ungefähr 45. Interview nach diesem Spiel, es gibt keinen einzigen Handballer, der mit einem zu großen Kopfhörer auf den Ohren durch die Mixed-Zone spaziert und schweigt. Alle reden, lachen, sind berauscht. Als der isländische Spielmacher Gigli Kristjansson an Wolff vorbei geht, lächeln sie sich an, Wolff nimmt ihn in den Schwitzkasten - sie sind Kollegen beim THW Kiel -, der Bär den Kleinen, nur ganz sanft, dann lässt er ihn lachend ziehen. Man kann sich des Einrucks nicht erwehren: Die deutschen Handballer machen im Gegensatz zur EM 2018 nicht mehr so vieles falsch, sondern eigentlich alles richtig.

Rückblick: Tolle Fotos waren das. Klatschnass in Schlauchbooten. Mutig hatten sie sich eine Raftingstrecke hinunterstürzt, sich geholfen und den reißenden Fluss gebändigt. Das war im Sommer. In Japan. Während eines Trips, der anfangs nicht bei jedem Nationalspieler Begeisterungsstürme hervorrief. Der eine oder andere hätte die zehn Tage direkt im Anschluss an eine strapaziöse Saison lieber mit der Familie verbracht. Doch jetzt, über ein halbes Jahr später, spüren die deutschen Handballer, dass damals etwas gewachsen ist, auf das sie jetzt zurückgreifen können: ein neuer Zusammenhalt.

Der war gut für die kritischen Situationen: Als Tobias Reichmann vor dem ersten Spiel aussortiert wurde und per Instagram nachtrat. Das ganze Gebilde hätte gleich vor dem ersten Spiel einstürzen können, weil damit erneut die Autorität des Trainers Christian Prokop angegriffen hätte sein können. Aber dann haben sie einfach drauflos gespielt, Korea und Brasilien besiegt, als wäre das alternativlos und nicht über Reichmann geredet. Noch ein Moment: Als das unnötige Remis gegen Russland vor dem Frankreich-Spiel eine echte Gefahr für die Hauptrunde gewesen ist. „Wir waren die traurigsten Spieler des Turniers“, sagte danach Kreisläufer Hendrik Pekeler und Paul Drux formulierte das, was folgte: „Wir haben uns zusammengerappelt.“

„Wir haben Stresssituationen gemeinsam bewältig“, hat Prokop gesagt, der in der Nacht von Köln etwas über Steffen Fäth sagen soll, der gegen Island überzeugte, zum Spieler des Spiels gewählt wurde. Fäth ist einer, der ob seiner Schwankungen Lob gebrauchen könnte. Prokop aber ließ das kaum zu. „Wir brauchen sie alle. Wer nicht begriffen hat, dass wir hier eine tolle Breite im Team haben und es darauf bei uns ankommt, der hat Handball nicht verstanden.“ Gemeinsam – das ist Prokops Leitmotiv. Selten wurde ein Handball-Trainer so auseinandergenommen, wie nach der EM in Kroatien im Vorjahr, weil sein Team auseinander gefallen war und dann gar nichts mehr übrig blieb, nicht einmal mehr Einzelteile. Es wurde im Graben gekämpft, der Zugang zu seinen Spielern war verschlossen, in Auszeiten hörte niemand mehr zu, viele schüttelten genervt den Kopf. Und die Gegner warfen einen Ball nach dem anderen ins leere deutsche Tor, weil die DHB-Spieler mit dem siebten Feldspieler angriffen und jedes Mal den Ball verloren. Es war trostlos. Eine Mannschaft war das nur noch auf dem Papier. In Wahrheit trug eine Ansammlung von Kleingruppen das gleiche Trikot.

Ein Jahr später ist das anders. „Alle haben brutal an sich gearbeitet“, findet Bob Hanning, der Vizepräsident des DHB. Henning ist mächtig und trägt das ganze Turnier über Pullover, die so bunt sind wie Hanning klein ist. Das hat am Anfang des Turniers alle belustigt, jetzt lacht nur noch Hanning über das eigene Selbstbewusstsein. Und das des deutschen Handballs, der gerade nur noch zur Primetime im öffentlich-rechtlichen TV spielen darf. Ein Traum für diesen immer nach Anerkennung buhlenden Sport, den so viele in Deutschland spielen.

Ob innerhalb eines Jahres die große Liebe zwischen Spielern und Trainer ausgebrochen ist, vermag niemand zu beurteilen. Vermutlich nicht. Aber es sieht so aus. Und manchmal reicht das für ein solches Turnier, das als Heim-WM alle beflügelt. Alle wissen intern: Prokop ist nur noch Trainer, weil mächtige Landesfürsten im Verband seine Entlassung verhindert hatten. Weil viel Geld ausgegeben worden war, um das Trainertalent von Erstligist Leipzig loszueisen. Aber man darf jetzt auch großen Respekt vor dem 40-Jährigen haben: Er hat sich rausgekämpft, noch mehr gearbeitet, sich verändert, ohne Stärken zu verlieren. Man hört ihm wieder zu. Auch das gehört zu dieser Handball-WM.

Und jetzt? Kommt Kroatien am Montag (20.30 Uhr/ZDF). „Das ist das top zu schlagende Team“, sagt Hanningnüchtern wie überzeugt. „Und wir können noch so 20 Prozent zulegen.“ Nicht in der Abwehr freilich, allenfalls noch in der Quote der gehaltenen Bälle der Torhüter. Gegen Island warfen die Gäste fast doppelt so oft gen Tor wie die Deutschen, aber sie verloren, weil wieder so wahnsinnig viel an diesem herausragenden Innenblock hängen blieb. 22 Gegentore im Schnitt waren schon nach der Hauptrunde ein überragender Wert, gegen Island waren es nur noch 19. „Es ist vielleicht die beste Abwehr der Welt“, sagt Hanning. Was das deutsche Spiel noch zum scheitern bringen könnte auf dem Weg ins Halbfinale, ist der Angriff: Der Spitzenwerfer mit den leichtesten Toren aus dem Rückraum fehlt, noch zu oft passieren Fehler, auch Island hätte ziemlich leicht noch höher besiegt werden können, was angesichts des Torverhältnisses keine schlechte Lösung gewesen wäre. „Besser geht immer“, sagte Wiencek in Köln.

Aber: Dieses Team hat einen Plan, der stark an das Wintermärchen von vor drei Jahren erinnert. Abwehrstärke und Teamgeist führte die einstigen „Bad Boys“ 2016 bei der EM in Polen ganz nach oben unter dem Trainer Dagur Sigurdsson. „Bad Boys“ nennen sie sich heute nicht mehr. Die sind 2018 in Kroatien auf der Strecke geblieben. „Bad Boys“ brüllen sie auch nicht mehr. Der neue Schlachtruf heißt „Ganbaru“ – das bedeutet „sein Bestes geben“ und ist japanisch. Noch so ein Mitbringsel aus Fernost.