Helmut Schön — zu Unrecht vergessen
Die Biographie des ehemaligen Nationaltrainers ist zum „Fußballbuch des Jahres“ gekürt.
Göttingen. Vor wenigen Tagen hat die Akademie für Fußballkultur die Biographie des ehemaligen Bundestrainers Helmut Schön als „Fußballbuch des Jahres 2017“ ausgezeichnet. „Ich wollte dazu beitragen, dass dieser interessante Mann nicht weiter in Vergessenheit gerät“, sagt Autor Bernd-M. Beyer vom Verlag „Die Werkstatt“.
Warum jetzt, warum überhaupt ein Buch über einen Bundestrainer, der vor 39 Jahren zurückgetreten ist und dessen Name vielen nichts mehr sagt?
Bernd Beyer: Weil ich im Lauf der Jahre das Gefühl bekam, dass dieser interessante Mann fünf Jahrzehnte deutscher Fußballgeschichte repräsentiert und zu Unrecht fast vergessen ist. Zwischen dem was er erreicht hat und dem, was von ihm geblieben ist, klafft eine Lücke.
Sie haben sich in zahlreichen Quellen bedient. Welche war die wichtigste?
Beyer: Einen wichtigen Impuls hat das Buch gegeben, das Schön 1978 nach seinem Abschied geschrieben hat und das einige erstaunliche Wahrheiten und Prognosen über die Entwicklung des Fußballs enthält. Schön warnte schon damals vor den Kommerzialisierungstendenzen und befürchtete, dass der Fußball sich von seinen Wurzeln entfernt und immer mehr zum Showgeschäft werden könnte, zum „Firlefanz“, wie er es nannte. Diese Warnung ist aktueller denn je. Sehr geholfen hat mir sein Sohn Stephan, der ähnlich zurückhaltend ist wie sein Vater, aber am Ende doch viel erzählt hat.
Sie haben auch mit Zeitzeugen gesprochen. Wie haben die reagiert?
Beyer: Ich bin ja kein Sportjournalist, sondern Lektor und hatte keine Verbindungen in die Fußballszene. Umso erstaunlicher war es, dass ich überall offene Türen eingerannt habe und Spieler wie Berti Vogts oder Uwe Seeler sofort zu Interviews bereit waren. Offenbar sprechen alle gern über Schön, auch ein Paul Breitner.
Breitner hatte Probleme mit Schön.
Beyer: Ja, aber nahezu alle bestätigen, dass Schön ein Meister darin war, Konflikte zu lösen. Er war wohl einer der ersten Trainer, der einen kooperativen Führungsstil pflegte. Er hat das selbst als Spieler gelernt in den ersten Nachkriegsjahren beim Dresdner SC, wo er mit zwei ehemaligen Mitspielern die Mannschaft in einer Art Triumvirat geführt hat. Das hat er als sehr angenehm erlebt, das hat ihn geprägt.
Deutlich wird in Ihrem Buch, wie tief das Zerwürfnis zwischen Schön und Vorgänger Sepp Herberger war.
Beyer: Das Verhältnis war zerrüttet, gerade in der Zeit um die Amtsübernahme 1964 herum. Es hatte sicher auch damit zu tun, dass beide völlig unterschiedliche Führungsstile hatten. Und Herberger konnte nicht loslassen, er blieb präsent im Dunstkreis der Nationalmannschaft. Er hat indirekt mit dazu beigetragen, dass man in den Anfängen der Ära Schön Erfolge noch Herberger zuschrieb, die Verantwortung für Niederlagen aber beim neuen Bundestrainer suchte. Aus dem Schatten Herbergers hat er sich eigentlich erst bei der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko herausgearbeitet.
Der Anteil Schöns an den Erfolgen der Nationalmannschaft in den goldenen siebziger Jahren wurde gern heruntergeredet mit dem Hinweis auf eine Spielergeneration mit Ausnahmekönnern wir Beckenbauer, Overath, Netzer oder Müller.
Beyer: Das Vorurteil hat existiert, aber es ist ungerecht. Ja, er hatte großartige Spieler, aber auch eine goldene Generation kann Titel verspielen. Sein Verdienst war es, dass er diese Generation mit dem Mut zur Offensive beflügelt und den Spielern Freiheiten gegeben hat. Das hat die Mannschaft, die 1972 Europameister wurde und als ein der besten aller Zeiten gilt, geprägt.
Welche Erkenntnis über Helmut Schön hat Sie am meisten überrascht?
Beyer: Er muss beim Dresdner SC und in der Nationalmannschaft ein grandioser Spieler gewesen sein, das ist fast völlig vergessen. Ich habe viele Spielberichte nachgelesen, das war beeindruckend. Oft wurde er mit dem Wiener Fußballgenie Matthias Sindelar verglichen — das sagt dem Kenner eigentlich schon alles. Seine Spielweise war technisch ausgereift, er hatte eine großartige Spielübersicht, er war als Halbstürmer oft der Lenker des Spiels, kam aber auch als Mittelstürmer zum Einsatz, denn er war höchst torgefährlich. Er ist außer Gerd Müller der einzige DFB-Nationalspieler mit einer nennenswerten Zahl von Einsätzen, der mehr Tore erzielt als Länderspiele bestritten hat.