Analyse: Gabriels Glanzstück
Berlin (dpa) - Sigmar Gabriel sieht bedient aus, die Stimmung ist am Boden. Der Parteichef sagt, was man in solchen Momenten so sagt. „Du bist ein Pfundskerl“, meint er zu Peer Steinbrück. Er habe einen „fantastischen Wahlkampf“ gemacht.
Aber glücklich ist hier niemand auf der Wahlparty am 22. September. Man habe eine Wahl zwischen Pest und Cholera, sagt ein Vorstandsmitglied. Eine schwache Rolle in einer großen Koalition oder eine Unions-Alleinregierung. Am Ende des Abends ist klar: Für letzteres fehlen CDU und CSU fünf Bundestagssitze.
Während die Union einige Kilometer entfernt im Adenauer-Haus mit fragwürdiger Stimmlage und zum Verdruss der Toten Hosen den Klassiker „An Tagen wie diesen“ grölt, kann sich Gabriel (54) nicht sicher sein, ob er wegen der enttäuschenden 25,7 Prozent SPD-Chef bleiben darf. Knapp drei Monate später, feiert die SPD plötzlich die Pest. Und Gabriel hat Tränen in den Augen. In der gefühlten Wahlniederlage vom 22. September könnte der Ursprung einer Kanzlerkandidatur 2017 liegen.
In einem früheren Postbahnhof in Berlin haben 400 Helfer das erstmalige Votum über den Eintritt in eine große Koalition auf Bundesebene stundenlang ausgezählt. „Sigmar, Sigmar“-Rufe ertönen, als er mit den übrigen Granden nach vorne zum Podium schreitet. Und es ist klar, es hat eine satte Mehrheit gegeben, fast 76 Prozent. „Wir sind die Beteiligungspartei“, ruft Gabriel. „Ich war schon lange nicht mehr so stolz Sozialdemokrat zu sein, wie in diesem Jahr.“ Wo andere über mehr Beteiligung redeten, lebe die SPD sie. Er erinnert daran, dass hier beim Bundesparteitag vor zwei Jahren eine Reform der SPD-Strukturen mit mehr Basisbeteiligung beschlossen worden sei.
Gabriel hat parteiintern viel bereinigt, auch Dissonanzen mit dem Wieder-Außenminister Frank-Walter Steinmeier scheinen überwunden. Generalsekretärin und Nun-Arbeitsministerin Andrea Nahles lobt er plötzlich öffentlich. Einstimmig billigt der SPD-Vorstand seine Kabinettsliste am Sonntag. Thomas Oppermann wird neuer Fraktionschef - und damit die SPD-Spitze nicht zu männlich wird, fahndet Gabriel nun nach einer Frau als Nahles-Nachfolgerin. Um den Parteilinken Ralf Stegner, dem der Job schon fast sicher war, nicht vor den Kopf zu stoßen, wird für ihn ein sechster Stellvertreter-Posten geschaffen.
Doch nun folgt das Regieren. Und da gibt es für Gabriel Risiken. Um die Energiewende in die Spur zu bringen, muss er Konflikte riskieren, auch mit SPD-Ländern: So wird etwa Rheinland-Pfalz mobil machen, wenn er die Windförderung an Land zu stark kappen will. In seinem Umfeld haben sie registriert, dass seit der Wahl, wo er viel moderiert und geschwiegen hat, seine Beliebtheitswerte steigen. Das Amt ist eine Chance, das brachliegende Wirtschaftsprofil der Partei zu schärfen - und Gabriel könnte Vorurteile über sich widerlegen.
Das aus der Not geborene Mitgliedervotum hat sich als Glücksfall entpuppt, plötzlich sieht das Agieren des Instinktpolitikers nach der Wahl aus wie eine große, geplante Strategie. Die Zurechtweisung der ZDF-„heute-journal“-Moderatorin Marietta Slomka wegen angeblicher verfassungsrechtlicher Bedenken gegen das Votum („Lassen Sie uns den Quatsch beenden“) haben ihm in der Partei zum Vorteil gereicht. Doch letztlich könnte der große Schulerschluss eine Momentaufnahme sein. Denn die große Koalition bleibt ungewollt, es bleibt die Sehnsucht vieler Genossen, die auf die rot-rot-grüne Option schielen. Und bei Gabriel sind auf starke Phasen auch schonmal schwächere gefolgt.