Analyse: Greifen die USA in Syrien an?
Washington (dpa) - Exakt ein Jahr nach Barack Obamas Rede an die Nation zum Thema Syrien steht das von einem verheerenden Bürgerkrieg zermürbte Land wieder ganz oben auf der Agenda des US-Präsidenten.
Am 10. September 2013 hatte sich der Obama um 21.01 Uhr in den East Room des Weißen Hauses gestellt und in einer langen Ansprache seine Syrienstrategie verkündet. „Amerika ist kein Weltpolizist“, gestand er damals ein - doch begrenzte Militärschläge in dem umkämpften Land seien wichtig und richtig, auch zum Schutz der Sicherheit der USA.
Dass Obama fast auf die Minute genau ein Jahr später (Donnerstag 3.00 Uhr MESZ) vor Millionen Fernsehzuschauer tritt, weckt Erinnerungen. Doch innen- wie außenpolitisch hat sich der Wind für die USA komplett gedreht. Vergangenen Spätsommer ging es offiziell um Giftgasangriffe des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, den Obama mit Raketenangriffen von weiteren Gräueltaten abhalten wollte. Nun geht es darum, der sich wie ein „Krebsgeschwür“ ausbreitenden Terrormiliz Islamischer Staat (IS) endlich das Handwerk zu legen.
Die Lage in Syrien und im benachbarten Irak ist derart verworren, dass es kaum reichen wird, wenn US-Kampfjets ihre Bombardements im Irak ausweiten. „Wir können keine Außenpolitik der Fototermine oder Pressemitteilungen betreiben, bei der wir hier eine Bombe abwerfen und dort eine Rakete abfeuern“, sagte der republikanische Senator Ted Cruz. Eine umfassendere Taktik müsse her, um den rund 30 000 bis 45 000 Kämpfer zählenden IS dauerhaft zu stoppen.
Beobachter bezweifeln, dass Obama diesen großen Wurf zum Thema IS in seiner abendlichen Ansprache verkünden wird. Selbst alteingesessene Reporter im Weißen Haus fragen sich, ob der zuvor als strategielos kritisierte Präsident überhaupt irgendetwas Neues sagen wird. „Warum sollte irgendjemand die Rede sehen?“, fragte einer Obamas Sprecher. Zumal die entscheidenden militärischen Schritte hinter verschlossenen Türen und nicht vor einem Millionenpublikum im TV diskutiert werden.
Auch weil die neue irakische Regierung noch instabil ist, brauchen die USA neben dem bereits gebildeten Zehner-Bündnis westlicher Staaten auch Partner im arabischen Raum. Obama könne mehr tun, um wie Jordanien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate die „gemäßigte“ syrische Opposition zu finanzieren und zu bewaffnen. Diese müsse von den USA zu einer wirklichen Streitkraft gegen den IS und Assad aufgebaut werden, schreibt Kenneth Pollack vom Brookings-Institut.
Von einer „Koalition der Willigen und Fähigen“ spricht US-Außenminister John Kerry, obwohl der von Ex-Präsident George W. Bush geprägte Begriff seit dessen Irakkrieg negativ behaftet ist. Doch letztlich brauchen die Amerikaner jeden Partner, den sie kriegen können, selbst einstige „Erzfeinde“ wie den Iran. Die Türkei ist entscheidend, um den Fluss ausländischer Kämpfer nach Syrien auszutrocknen, tut sich bei der Sicherung ihrer langen Grenzen aber schwer. Kuwait und Katar bieten den USA Stützpunkte für Luftangriffe. Großbritannien und eventuell Frankreich scheinen für Luftschläge ebenfalls bereitzustehen.
Die barbarischen Enthauptungen der von Dschihadisten entführten US-Journalisten James Foley und Steven Sotloff haben die Bereitschaft der Amerikaner zur Bekämpfung des IS geweckt. Denn anders als nach Assads Giftgasangriff vor einem Jahr sieht die Mehrheit der US-Bürger im wachsenden Kalifat auch eine Bedrohung ihres Heimatlandes. Für den in einem Umfragetief versunkenen Obama sind die Entwicklungen der vergangenen Woche auch zur Chance geworden, außenpolitisch härter durchzugreifen. Schon jetzt kommt das US-Militär seit dem vor einem Monat begonnenen Einsatz im Irak auf mehr als 150 Luftangriffe.
Zumindest den Einsatz bewaffneter Kampftruppen hat Obama bereits ausgeschlossen. Nicht nur, weil die Amerikaner nach den langen Kapiteln in Afghanistan und im Irak mit insgesamt mehr als 6800 toten US-Soldaten als kriegsmüde gelten. In dem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten würde eine plötzliche Entsendung von Bodentruppen auch den Eindruck erwecken, dass die USA Partei ergreifen. Und er würde die Amerikaner noch tiefer in einen Konflikt ziehen, den sie längst beenden wollten. Wie lange der jetzige Kampf gegen den IS dauern könnte, vermag selbst Regierungssprecher Josh Earnest nicht zu sagen.
Während Abgeordnete und Senatoren seit Wochen gegen den Präsidenten wettern und nach schärferen Schritten rufen, sucht Obama ihre Rückendeckung anders als vor einem Jahr nur noch symbolisch. Zwar will er sie an der „Debatte“ beteiligen, doch nach seinen Worten geht es eher darum, sie „auf seine Seite zu ziehen“.
Das Treffen mit den vier Anführern beider politischen Lager am Dienstag wirkte eher wie eine Unterrichtung. Er habe die Befugnis zuzuschlagen und brauche den Kongress dafür nicht, sagte Obama den Parlamentsführern ins Gesicht. Rand Paul, möglicher Kandidat der Republikaner für einen Anlauf aufs Weiße Haus, nutzte Obamas bisherige Zurückhaltung bereits für seine eigenen Zwecke: „Hätte ich in Präsident Obamas Schuhen gesteckt, hätte ich entschiedener und stärker gegen den IS gehandelt“, schrieb er im Magazin „Time“.