Analyse: Helmut Schmidt wärmt die Seele der SPD

Berlin (dpa) - Als der donnernde Applaus nicht enden will, kramt Helmut Schmidt erst einmal in seinem schwarzen Jackett und holt eine Mentholzigarette heraus. Der 92-Jährige missachtet jedes Rauchverbot, aber bei der SPD sieht man dies dem Altkanzler nach.

Mit einem flammenden Appell, die Kriegszeiten in Europa nicht zu vergessen und daher die Schuldenkrise durch eine weitere Integration zu meistern, begeistert er am Sonntag fast 9000 Menschen beim SPD-Parteitag.

In der Station-Berlin, einem Industriegelände in Berlin-Kreuzberg, das seit der Kaiserzeit bis 1997 als Postgüterbahnhof diente, wärmt Schmidt zunächst die Parteiseele mit sehr persönlichen Erinnerungen. Er erzählt, wie er auf den Tag genau vor 65 Jahren zusammen mit seiner Frau Loki auf dem Boden kniend Plakate für die SPD in Hamburg-Neugraben gemalt hat.

Nach einem historischen Exkurs rechnet er mit Union und FDP und deren Agieren in der Eurokrise ab. Er wirft Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) mit Blick auf die Aussage, in Europa werde wieder Deutsch gesprochen, eine deutsch-nationale Kraftmeierei vor. Es dürfe nicht vergessen werden, dass der Wiederaufbau in Deutschland nach dem Krieg ohne Hilfe westlicher Partner nicht möglich gewesen wäre. Um eine gemeinsame Haftung, etwa durch Eurobonds, komme man nicht herum.

„Wir brauchen ein mitfühlendes Herz gegenüber unseren Nachbarn und Partnern - und das gilt ganz besonders für Griechenland“, fordert Schmidt, der zu seiner Zeit als Kanzler 1974 bis 1982 die europäische Einigung vorangetrieben hatte. Eine Isolation Deutschlands in der EU und im Euroraum wäre hochgefährlich, warnt der Altkanzler.

Wenig später bläst einer der drei potenziellen Kanzlerkandidaten in dasselbe Horn. Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier sagt, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bringe mit ihren Belehrungen zum Sparen, während in Deutschland die Neuverschuldung steigt, selbst „die wohlmeinenden Nachbarn auf die Zinne“. Das sei Heuchelei. „Nichts anderes.“

Steinmeier schärft mit einer kämpferischen Rede das Profil der SPD als Europapartei. „Wir in Europa lassen uns von den Märkten nicht auseinandertreiben“, sagt er. Merkel wirft er vor, mit Rücksicht auf die FDP in der Eurokrise nicht entschlossen genug zu handeln. Doch viele Bundesbürger haben ein anderes Bild. Die Mehrheit traut Merkel nach einer Emnid-Umfrage eher zu als ihren potenziellen SPD-Herausforderer Steinmeier, Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel, Deutschland durch die Eurokrise zu führen.

Altkanzler Schmidt warnt eindringlich von einem gefährlichen Geschwätz über ein Ende des Euro. Die „Sozis“ hätten sich schon früh den Grundwerten der europäischen Solidarität verpflichtet. Es ist eine Art Auftrag für den Fall einer Regierungsübernahme im Jahr 2013.

Das letzte Mal hatte Schmidt am 17. April 1998 auf einem Parteitag geredet, als Gerhard Schröder in Leipzig mit 93 Prozent zum Kanzlerkandidaten der SPD gekürt wurde - daher wird sein Auftritt in Berlin als gutes Omen für 2013 gewertet. Auch wenn sich die SPD anno 2011 noch nicht auf ihren Kanzlerkandidaten festgelegt hat, hat Schmidt mit seinem Ritterschlag für Peer Steinbrück („Er kann es“) bereits eine deutliche Präferenz erkennen lassen - was in der Partei nicht nur wohlwollend aufgenommen worden ist.

Es gibt einige Parallelen zur Lage 1998. Die Partei ist bis auf die Steuer- und Rentenvorstöße der Parteilinken erstaunlich geeint. Nach dem Wahldebakel von 23 Prozent 2009 und einer anschließenden Serie von acht Regierungsbeteiligungen bei acht Landtagswahlen hat sie ihr Selbstbewusstsein zurückgewonnen. Die Umfragewerte haben sich bei 28 bis 30 Prozent eingependelt. Da aber die Grünen schwächeln, droht weiterhin die Juniorrolle in einer großen Koalition. Steinbrück hat erklärt, unter Merkels Führung steht er nicht mehr zur Verfügung.

Die Parteispitze will alles vermeiden, was das aktuelle Bild der Geschlossenheit stören könnte. Eindringlich hat sie, genauso wie Gerhard Schröder, die Parteilinke vor Forderungen nach einem Spitzensteuersatz von 50 Prozent plus X gewarnt, damit bürgerliche Wähler nicht verschreckt werden. Steinbrück betont: „Die SPD muss sich überlegen, ob sie mit einem ausgewogenen Steuerkonzept Wahlen gewinnen will oder ob sie sich in Steuerdebatten lieber mit sich selbst beschäftigt.“

Setzt sich die Parteilinke beim Parteitag durch, hätte die SPD ein großes Problem, auch wenn der Kandidat erst in etwa einem Jahr gekürt werden soll. Denn dann dürften die „Stones“, Ex-Finanzminister Steinbrück und Steinmeier, für eine Kanzlerkandidatur 2013 nicht zur Verfügung stehen. Dies wäre ein Bruch mit einer Politik der Mitte und würde die SPD aus ihrer Sicht zu weit nach links rücken. In diesem Fall dürfte die Kandidatur auf Parteichef Sigmar Gabriel zulaufen. Und mit der Einigkeit bei den Sozialdemokraten wäre es wieder vorbei. Aber: Das Linksruck-Szenario gilt parteiintern als unwahrscheinlich.