Analyse: Ist das Dublin-System noch zeitgemäß?
Brüssel (dpa) - Ineffektiv und ungerecht - oder eine solide Grundlage für die europäische Asylpolitik? Kaum ein anderes Schlagwort in der oft hitzigen Flüchtlingsdebatte ruft mehr Kritik hervor als die Dublin-Verordnung.
Sie regelt die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa und schreibt seit 2003 vor, dass derjenige Staat für einen Asylantrag zuständig ist, in dem ein Flüchtling erstmals europäischen Boden betreten hat.
Gegner fordern nun immer lauter die Abschaffung des Dublin-Systems - und ihre Zahl wächst. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte im ARD-„Sommerinterview“: „Das Dublin-Abkommen entspricht nicht mehr den Gegebenheiten, wie wir sie mal hatten.“ Europa müsse zu einer fairen Lastenverteilung bei der Flüchtlings-Aufnahme kommen.
Doch wie soll die aussehen? Das ist noch unklar. Anstelle der großen Reform könnten letztlich auch nur ein paar kleine Änderungen stehen - oder eine Aussetzung von Dublin. Es scheint, dass sich das Dublin-System nach mehr als einem Jahrzehnt überlebt hat. Es stammt aus einer Zeit, als fast alle EU-Länder noch EU-Außengrenzen hatten. Auch Deutschlands Nachbarland Polen war damals noch kein EU-Mitglied.
Damals schien es sinnvoll, dass dasjenige Land sich um das Asylverfahren kümmert, Fingerabdrücke nimmt und den Flüchtling registriert, in dem dieser ankommt. Die Idee dahinter war, die Behörden zu entlasten und „Asylshopping“ zu verhindern, also dass Asylbewerber in einem zweiten EU-Staat einen Antrag stellen, nachdem ein anderes Land sie abgewiesen hat. Staaten können weitergereiste Asylbewerber auch in den ersten Staat zurückschicken. Die Dublin-Verordnung gilt in allen EU-Staaten, Norwegen, Island und der Schweiz.
Doch in Zeiten steigender Flüchtlingszahlen funktioniert die Regel nicht mehr. Denn Millionen Menschen fliehen derzeit vor dem Bürgerkrieg in Syrien oder der Diktatur in Eritrea, vor Armut und Kriegen nach Europa. Sie kommen vor allem an den südlichen EU-Außengrenzen an, also in Italien und Griechenland, aber auch in Ungarn. Im Jahr 2014 baten 625 000 Menschen in der EU um Asyl, 44 Prozent mehr als im Vorjahr und die mit Abstand höchste Zahl seit 1998. Die Südländer sind überfordert und wollen die Dublin-Regeln abschaffen. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi sagt: „Die Dublin- Vereinbarung war falsch und schändlich.“
Italien und Griechenland halten einfach die Spielregeln nicht mehr ein. Sie lassen Flüchtlinge in andere EU-Länder ohne Registrierung weiterreisen. Landet etwa ein Bootsflüchtling an der italienischen Küste, kann er sich nach München durchschlagen - und in Deutschland Asyl beantragen. Laut europäischem Statistikamt Eurostat stellten im ersten Quartal 2015 rund 40 Prozent der in der EU registrierten Asylbewerber ihren Antrag in Deutschland - in Italien nur 8 Prozent.
Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IMO) reist die Hälfte der in Italien gelandeten Flüchtlinge weiter in andere EU-Staaten. Das sorgt für mächtig Zoff. Bundesinnenminister Thomas de Maizière klagt: „Wenn viele Staaten sich nicht an die Regeln halten, werden wir über kurz oder lang auch über den freien Grenzverkehr diskutieren.“ Frankreich klagt über ähnliche Probleme und wies mehrfach Flüchtlinge an der Grenze zu Italien ab.
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl kritisiert: „Das Dublin-System ist ineffektiv, ungerecht und menschenrechtswidrig.“ Die Innenexpertin der Linken im Bundestag, Ulla Jelpke, fordert: „Wir brauchen eine Abkehr vom derzeitigen Dublin-System. Die Flüchtlinge sollen dort um Schutz nachsuchen können, wo sie familiäre Kontakte haben oder wo sie die Landessprache sprechen.“
Die EU-Kommission hat nun angekündigt, die Dublin-Verordnung im nächsten Jahr zu überarbeiten - die Aussichten auf Erfolg sind aber mäßig. „Die meisten EU-Staaten haben darauf überhaupt keine Lust“, meint ein EU-Diplomat. Der Prozess würde wohl sehr langwierig.
Bisher sperrten sich Deutschland und Frankreich dagegen. Anfang Juni erklärten Minister de Maizière und sein französischer Amtskollege Bernard Cazeneuve gemeinsam: „Das Dublin-System muss in Kraft bleiben. Wir halten hartnäckig daran fest.“ Auch die baltischen und viele ost- und mitteleuropäische Länder, wo bislang wenige Flüchtlinge ankommen, wollen keine Änderungen - weil sie dann mehr Menschen aufnehmen müssten als bisher.
Schon eine feste Quote zur einmaligen Verteilung von 40 000 Flüchtlingen - um Italien und Griechenland zu entlasten - wurde von den Staaten in den vergangenen Monaten blockiert. Nun nehmen die meisten Länder auf freiwilliger Basis von Herbst an Kontingente zusätzlich auf. Dies ist aber eine Ausnahme aufgrund der „Notlage“ und befristet.
Denkbar ist, dass diese Ausnahme zur Regel gemacht wird. Das wäre ein pragmatischer Kompromiss, bei dem das Dublin-Prinzip unangetastet bliebe. Der für Flüchtlinge zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos hat angekündigt: „Bis Jahresende werde ich ein festes Verteilsystem für weitere Notfälle vorschlagen.“