Analyse: Not kennt kein Gebot in der EU

Brüssel (dpa) - Alle redeten über ein Thema, das es nicht gab. Schon gar nicht beim EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel. Die Rettung Griechenlands vor dem Staatsbankrott, die Entschärfung der schwersten Krise der EU seit deren Gründung vor 54 Jahren: Diese Fragen standen nicht auf dem Gipfelprogramm der 27 Staats- und Regierungschefs; offiziell jedenfalls nicht.

Tatsächlich war die Krise so brisant, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, Kommissionspräsident José Manuel Barroso, Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker und EZB-Präsident Jean-Claude Trichet schon unmittelbar vor dem Gipfel zu einer Krisensitzung im kleinen Kreis zusammenkamen.

„Für eine stärkere wirtschaftspolitische Steuerung“ grüßte die EU-Kommission die Gipfelteilnehmer mit einem über ihr 13-stöckiges Bürogebäude gespannten Transparent. Denn das war der Plan: Die Gipfelrunde sollte die ersten Versuche mit einer besseren Koordination der Wirtschaftspolitik abnicken, ohne sich mit Details zu befassen. Um die Griechen-Krise wollte man sich nicht eigens kümmern, weil die wichtigsten Entscheidungen schon von den Finanzministern getroffen worden seien, wie es hieß. Zudem müsse sowieso erst einmal abgewartet werden, ob das griechische Parlament den Sanierungsvorgaben von EU und IWF zustimmt und ob die nächste Hilfstranche von 12 Milliarden Euro wirklich ausgezahlt werden könne.

Allerdings gilt für Themenprogramme von EU-Gipfeln eine Regel aus dem Erfahrungsschatz der Europäischen Union: Was geschrieben steht, ist nicht immer das, was getan wird. Das wissen die Staats- und Regierungschefs nur zu gut. Der sogenannte Stabilitäts- und Wachstumspakt, mit dem 1997 vor allem den Deutschen die Angst vor der Eurowährung genommen werden sollte, wurde schon rund 40 Mal gebrochen. Und zwar folgenlos - seit Deutsche und Franzosen als Defizitsünder mit schlechtem Beispiel vorangingen. Keine der möglichen Sanktionen wurde jemals verhängt.

„Das hat dem Stabilitätspakt die Glaubwürdigkeitszähne gezogen und deswegen müssen jetzt neue Glaubwürdigkeitszähne eingezogen werden“, sagte der deutsche Außen-Staatsminister Werner Hoyer vor dem Gipfel. Der Stabilitätspakt soll also verschärft werden, um eine Wiederholung der Griechen-Tragödie zu verhindern. Stärkere Kontrollen, härtere und schärfere Strafe für Defizitsünder. Oder vielleicht doch nicht? Denn als das Europaparlament ein Entscheidungsverfahren forderte, bei dem die Regierungen den Automatismus von Defizit und Strafe kaum noch hätten abwenden können, da gab es plötzlich zwischen Parlament und Ministerrat keine Einigung mehr.

Das Ringen um die mehr oder weniger starke Verschärfung des „Stabi-Pakts“ ist vor allem für Merkel ärgerlich. Sie hatte diese Verschärfung als Gegenleistung für die milliardenschwere Zustimmung zum europäischen Rettungsfonds EFSF und zu dessen künftigem Nachfolger ESM gefordert - um den Bundestag zum Ja zu bewegen. Jetzt aber stehen erst einmal schwierige Verhandlungen mit dem Europaparlament ins Haus.

Nicht körperlich beim Gipfel anwesend, aber doch politisch präsent war der konservative griechische Oppositionsführer Antonis Samaras: Bei einem vorhergehenden Treffen der europäischen Christdemokraten in Brüssel musste er sich durchaus Kritik an seinem harten Nein zum Sparpaket des sozialistischen Regierungschefs Giorgos Papandreou anhören. Doch er blieb hart. Aber EU-Kommissionspräsident Barroso hatte ihm schon eine Brücke gebaut: Griechenland soll eine Milliarde Euro aus dem EU-Haushalt bekommen. Eigentlich gibt es Vorschriften, wonach das nur bei finanzieller Eigenbeteiligung möglich ist - aber so ernst will man es mit Vorschriften nicht nehmen: Not kennt kein Gebot in der EU. Und förmliche Gipfelprogramme sowieso nicht.