Analyse Baggern an der Basis

Berlin (dpa) - Martin Schulz müht sich sehr. 30 Minuten lang arbeitet er im Eiltempo unbequeme Fragen ab. Was ist von den großen Zusagen im Wahlkampf übrig geblieben? Warum sollen die Sondierungsergebnisse ein Erfolg sein?

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Was bitte ist heute anders als am Wahlabend? Also viele verschiedene Variationen der Frage: Was soll das?

Was ihm die Facebook-Nutzer da am Dienstag beim Live-Video-Chat im Netz hinwerfen, ist nicht besonders angenehm. Aber der SPD-Chef spult brav auf jede der ausgewählten Fragen eine Antwort runter und appelliert an das rote Gewissen der Genossen: Sie mögen doch bitte an die Alleinerziehende denken, an die Rentnerin oder Menschen in Pflegeheimen. Sie alle warteten doch darauf, dass sich etwas für sie verändere, „dass wir etwas für sie tun“. Es gehe darum, das Land besser und gerechter zu machen. Dass die SPD seit Jahren mitregiert, lässt Schulz an dieser Stelle weg.

Er zählt auf, was die SPD alles durchgesetzt habe bei den Sondierungen mit der Union: Grundrente, Investitionen in Bildung, Verbesserungen bei Pflege und Kinderbetreuung, Entlastungen für Familien. Und den großen Aufbruch in Europa. Ja, die SPD habe nicht alles durchgesetzt, aber doch „eine ganze Menge“, meinte er. Und gibt eine Frage an die Skeptiker zurück - mit Blick aufs Regieren: „Warum sollten wir es nicht tun, wenn wir das Leben der Menschen konkret verändern können?“

Viele Facebook-Nutzer, die Schulz' Auftritt am weißen Stehpult live verfolgen, sehen das anders. Es hagelt spöttische Kommentare („unglaubwürdig“, „erst hüh, dann hott“, „Laber Laber Laber“). Seine Wende vom Oppositions- zum Regierungskurs hat Spuren hinterlassen.

Schulz muss bis zum Bundesparteitag am Sonntag in Bonn noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Die SPD-Vorstände in mehreren Ländern (etwa Niedersachsen oder Brandenburg) haben sich für Koalitionsverhandlungen mit der Union ausgesprochen.

Andere Landesverbände haben sich per Parteitagsbeschluss oder Vorstandsvotum gegen eine weitere GroKo in Stellung gebracht: Thüringen oder Sachsen-Anhalt etwa, auch der Landesvorstand der Berliner SPD. Das sind nicht alles sehr gewichtige Landesverbände. Und die Delegierten in Bonn sind auch nicht an Beschlüsse von Landesparteitagen oder -vorständen gebunden. Für Schulz sind es trotzdem unangenehme Stiche.

Im Moment tourt der oberste Genosse durch jene Landesverbände, die besonders viele Delegierte nach Bonn schicken und viele Unentschlossene unter sich haben: Bayern, Rheinland-Pfalz und allen voran NRW. Von dort kommt ein Viertel der Abgesandten beim Parteitag.

Am Montagabend besuchte Schulz ein großes Delegierten-Vortreffen in Dortmund. Mehr als drei Stunden bearbeitete er die Genossen hinter verschlossenen Türen, gemeinsam mit SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles und dem SPD-Landeschef Michael Groschek. Die Teilnehmer sprachen hinterher von einer lebhaften Diskussion - respektvoll im Ton, aber hart in der Sache. Viele kamen mit der gleichen Meinung raus, mit der sie reingegangen waren. Und viele sind nach wie vor unentschieden.

Schulz ist selbst aus NRW, aber eine richtige Hausmacht hat er nicht. Dafür war er zu lange „weg“, in Brüssel. Das ist zwar in Kilometern keine große Entfernung, gefühlt für viele Genossen aber schon.

Groschek führt die NRW-SPD anders als die frühere Partei-Frontfrau im größten Bundesland, Hannelore Kraft. Er versucht es auf die sanftere Art - mit weniger Basta. Es gibt also gerade nicht die eine große Leitfigur, um den ganzen Landesverband einzufangen. Und Unentschlossene und GroKo-Gegner gibt es eben nicht nur in NRW. Auch die Jusos trommeln unermüdlich gegen eine weitere Runde Schwarz-Rot.

Jeden Tag werben Leute aus der SPD-Führungsriege für Koalitionsverhandlungen mit der Union. Jeder muss mal ran. Auch viele, die vor den Sondierungen noch öffentlich skeptisch waren, sind inzwischen umgeschwenkt. Aber geritzt ist die Sache damit noch nicht.

Die Lage ist unberechenbar. Es bleibt ein kleines Risiko, dass beim Parteitag am Ende eine Mehrheit gegen den Kurs der Führung votieren könnte. Aber wahrscheinlich ist das nicht. Denn alle in der SPD wissen um die Folgen: Martin Schulz müsste sofort abtreten. Die gesamte Parteispitze, alle, die für ein Ja zu Koalitionsverhandlungen geworben haben, wären nachhaltig beschädigt. Und bei einer Neuwahl, die dann wahrscheinlich wäre, könnte die SPD noch weiter abrutschen. Unter die 20-Prozent-Marke. Das Ganze hätte etwas Märtyrerhaftes.

Es kommt aber nicht nur darauf an, ob beim Parteitag eine Mehrheit Ja zu Koalitionsverhandlungen sagt, sondern wie viele Delegierte das tun. Sollte Schulz nur mit einer hauchdünnen Mehrheit im Rücken in die Verhandlungen mit der Union starten, wäre das für ihn ein Problem. Es wäre ein schwaches Mandat, er hätte einen denkbar schlechten Stand bei den Gesprächen.

Andererseits könnte er ein knappes Votum auch als Druckmittel nutzen nach dem Motto: Liebe Union, wenn ihr mir nicht mehr gebt, übersteht der Koalitionsvertrag den SPD-Mitgliederentscheid am Ende nie und nimmer. Denn die Genossen haben zum Schluss noch mal Mitsprache. Falls es denn so weit kommt.