Der tote Gaddafi - warum schauen wir hin?

Berlin (dpa) - Der tote Gaddafi blutüberströmt im Straßendreck - es ist eine Aufnahme, die fast jeder gesehen hat. Bilder gefallener Diktatoren üben eine unheimliche Faszination aus.

Einige wurden zu Symbolen für das Ende einer Epoche - so in Italien das Bild des kopfüber von einer Tankstelle hängenden Faschistenführers Mussolini.

Anfangs haben solche Bilder oft eine konkrete Beweisfunktion. Man will zeigen, dass der gestürzte Machthaber wirklich tot ist. Zwar weiß jeder, dass man das heute manipulieren kann, aber die Suggestivkraft eines Bildes ist nicht zu unterschätzen. So erwog die US-Regierung nach der Erschießung von Osama bin Laden zunächst, Fotos von der Leiche zu veröffentlichen, sah dann aber davon ab, weil sie angeblich besonders abstoßend wirkten.

Dass der „Böse“ seine „gerechte Strafe“ erhält, erfüllt Menschen mit Genugtuung. Gleichzeitig empfinden es viele als voyeuristisch, ja beschämend, die Gaddafi-Fotos zu betrachten. Der Medienwissenschaftler Prof. Carsten Reinemann von der Universität München meint jedoch: „Man muss sich eigentlich nicht schämen. Wenn solche Dinge passieren, können wir fast gar nicht anders, als da hinzuschauen. Solche Fotos sind einfach Dinge, die an den Kern des Menschlichen gehen, die direkt an das emotionale Zentrum in unserem Hirn wandern, und da können wir schwer raus.“

Der Berliner Kunsthistoriker Prof. Peter Geimer, Mitglied einer Forschergruppe zu Bildgeschichte und Ästhetik, sieht ein besonderes Bedürfnis nach Bildern, „in denen sich Zeitgeschichte formelhaft verdichtet“. Er glaubt: „Diese Bilder müssen eigentlich unscharf sein. Man muss den Eindruck haben, der Fotograf kam gerade noch dazu. Dieses unmittelbare Da-Sein wird am Besten vermittelt, wenn das Bild nicht zu perfekt ist.“ Das Handyfoto eines Amateurs wirkt unter diesem Gesichtspunkt glaubwürdiger als die Arbeit eines Profi-Fotografen - oder das gestochen scharfe Bild von der Gaddafi-Leiche im Krankenhaus.

Für Geimers These scheint auch zu sprechen, dass offenbar etwas vermisst wird, wenn ein solches Bild einmal fehlt. Ein Foto des toten Hitler gibt es nicht - er hatte befohlen, seinen Körper sofort zu verbrennen, wohl damit er nicht - wie die Leiche Mussolinis - fotografiert werden konnte. Heute fällt auf, dass gerade Hitlers Ende einen nicht nachlassenden Strom von Büchern, Fernsehdokumentationen und Spielfilmen inspiriert, so als müsse das fehlende authentische Bild durch gestellte Bilder kompensiert werden.

Ein Bild kann auch eine Verführung sein - es ist mehrdeutig. Das Foto des übel zugerichteten Gaddafi kann auch als Märtyrerbild verstanden werden. Für sich betrachtet ist es das Bild eines Opfers - nicht das eines Täters.

Geimer sieht noch eine andere Gefahr: Der komplexe Kontext der libyschen Revolution könnte durch das Bild überlagert werden. „Die ständige Visualisierung vereinfacht auch Geschichte. Man denkt, man ist live dabei und versteht alles. Das halte ich für trügerisch.“