Frust: Ja - Experimente: Nein Die Stimmung vor der Wahl: Brodelt da was?
Berlin (dpa) - Dreimal ist der englische Zeitungskolumnist Martin Kettle in letzter Zeit in „Europas wichtigstem Land“ gewesen. Jedes Mal wunderte er sich: „Man merkt kaum, dass dieses Jahr in Deutschland gewählt wird.“
Damit schildert er einen Eindruck, der auch im Land selbst vorherrscht: Demnach ist der Wahlkampf öde, da ein Sieg Angela Merkels nach den Umfragen festzustehen scheint.
Aber ist da nicht noch etwas anderes? Das Marktforschungsinstitut Rheingold hat 50 Wähler in ausführlichen Gesprächen befragt und dabei festgestellt: „Unter der Oberfläche brodelt und rumort es.“ Dies gelte nicht nur für AfD-Sympathisanten, sondern für große Teile der Bevölkerung, erläutert Institutsleiter Stephan Grünewald.
Die Wähler sehen Deutschland dieser - nicht repräsentativen - Studie zufolge als verwahrlostes Land mit maroden Schulen, No-Go-Areas, ständigem Verkehrskollaps und geheimen Absprachen zwischen Politikern und Industrie. Außerdem beklagen sie soziale Ungerechtigkeit.
Auch das Thema Flüchtlinge sei keineswegs abgehakt. Hier ergibt sich demnach folgendes Bild: Die Wähler sind noch immer hin- und hergerissen. Auf der einen Seite haben sie Mitleid und wollen helfen. Auf ander anderen Seite fürchten sie, „von dem Fremden verschlungen zu werden, ihr Land nicht wieder zu erkennen“.
Von den Politikern erwarten die Wähler in dieser Situation Orientierung: Wie soll das „Wir schaffen das!“ konkret umgesetzt werden? Aber auf diese Frage - so die Teilnehmer der Studie - bleiben Politiker die Antwort schuldig. „Die Wähler sind vom Wahlkampf enttäuscht“, fasst Grünewald zusammen.
An diesem Punkt stellt sich die Frage: Wenn dem so ist, warum schneidet die CDU dann in den Umfragen so gut ab? Warum hat die vom Allensbach-Institut gemessene Zustimmung zu Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder genau den gleichen hohen Wert wie vor der Flüchtlingskrise erreicht?
Darauf antwortet Psychologe Grünewald: Die Wähler glauben, dass sie Angela Merkel trotz aller Vorbehalte brauchen - als „moderne Raubtier-Dompteuse“ und „Schutzheilige der Nation“. Stichwort „äußere Bedrohung“: Die Alpha-Männchen dieser Welt - mögen sie nun Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan heißen - sind Frau Merkels beste Wahlhelfer. Martin Schulz könne da nicht mit ihr konkurrieren, denn die ursprüngliche Hoffnung auf eine zupackende Vaterfigur habe der SPD-Herausforderer nicht erfüllt: „Er gilt als lieber Onkel.“
Für die Rheingold-Studie wurden zwar Wähler aller Altersstufen und politischen Richtungen sowie aus Ost und West ausgewählt, doch mit nur 50 Teilnehmern ist sie bei weitem nicht repräsentativ.
Längst nicht alle Experten sind denn auch von den Ergebnissen überzeugt. „Ich sehe die Stimmungslage keineswegs so negativ“, sagt der Parteienforscher Jürgen Falter. „Es gibt natürlich nach wie vor eine gewisse Unzufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik, ja, aber das ist für viele gar nicht mehr das primäre Thema. Vielmehr spielen Sicherheit und Terrorismus gegenwärtig eine wichtigere Rolle. Dass sich da so etwas entwickelt wie in Trumps Amerika, kann ich nicht sehen.“
Einige Aspekte werden aber auch durch repräsentative Umfragen belegt. So wäre es sicher falsch, von dem eher undramatischen Wahlkampf auf ein Desinteresse der Bürger zu schließen. Dagegen spricht schon, dass die Wahlbeteiligung in den vergangenen beiden Jahren deutlich gestiegen ist. Das Allensbach-Institut hat zudem festgestellt, „dass die Bürger wieder wesentlich mehr über Politik diskutieren“. Und was die wichtigsten Themen des Wahlkampfs betrifft: Dies sind laut Allensbach auffälligerweise eher solche, die der SPD zugeordnet werden, etwa soziale Gerechtigkeit, die Förderung von Familien und Sicherung der Renten.
Dass Merkel in den Umfragen dennoch so weit vorn liegt, ist auch nach Meinung des Parteienforschers Oskar Niedermayer zu einem guten Teil der weltpolitischen Lage geschuldet: „Merkel als erfahrene Krisenmanagerin, die Deutschland an der Hand nimmt als Mutter der Nation. Das ist etwas, das dem Sicherheitsbedürfnis der Deutschen durchaus entgegenkommt. Das ungeheuer wichtige Argument für viele ist eben: Wieso soll ich in einer solch krisenhaften Situation jetzt die Pferde wechseln?“
Ähnlich sieht es der Politologe Stefan Marschall. Flüchtlingskrise, Terror-Gefahr, Brexit, Trump, Nordkorea - all das habe die Bürger verunsichert. „Verunsicherungen führen aber letzten Endes dazu, keine Experimente wagen zu wollen und auf das zurückzugreifen, was man kennt.“ Dazu komme, dass der Wahlkampf nicht wirklich mobilisierend sei: „Eine Polarisierung zwischen den großen Parteien und damit auch der beiden Lager fehlt. Schuld daran ist nicht zuletzt die große Koalition, die die Unterschiede zwischen Union und SPD verschwimmen lässt. Gerade bei dem Thema, das die Menschen am meisten bewegt - Flüchtlinge, Integration, Asyl - bieten die großen Parteien kaum unterschiedliche Antworten.“
Für den Politikwissenschaftler Uwe Jun beschreibt die Rheingold-Studie eine Stimmungslage, wie sie derzeit in vielen demokratischen Gesellschaften zu beobachten ist: „Die Lücke zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den Wählern wächst, weil die komplexen Folgen der Globalisierung mit ihren vielen Unsicherheiten kaum umfassend bewältigt werden können.“
In diesem Zusammenhang haben viele Bürger Erwartungen an die Politik, die in einer globalisierten Welt nur schwer zu erfüllen sein dürften. So wollen nach einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung 78 Prozent der Bevölkerung, dass ihnen der Staat ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt.
Wie es nach der Bundestagswahl weitergeht, hängt sicherlich mit davon ab, ob es eine Neuauflage der großen Koalition gibt - und viele Wähler dann weiter den Eindruck hätten, dass alles mit einer dicken Konsens-Soße übergossen wird. Psychologe Grünewald glaubt in jedem Fall nicht, dass Merkel nach dieser noch eine weitere Bundestagswahl gewinnen könnte: „Dieses Stillhalteabkommen - ich sorge dafür, dass es euch weiter gut geht, und dafür bitte keine Fragen - das wird nicht mehr lange gut gehen.“