Reportage: Wird die Ägäis zum „Friedhof“?
Ayvacik (dpa) - Das Wetter ist günstig, am Strand von Ayvacik legt an diesem Tag im November alle Viertelstunde ein Flüchtlingsboot ab. Ziel ist die griechische Insel Lesbos, deren Berge in rund zehn Kilometern Entfernung aus dem Meer ragen.
Schleuser und Flüchtlinge hieven gemeinsam ein Schlauchboot nach dem anderen ins Wasser der türkischen Ägäis. Ein Wagen der Polizei fährt an Land vorbei, ein Boot der türkischen Küstenwache patrouilliert im Meer. Niemand greift ein. Die Flüchtlingsboote verschwinden in der Abenddämmerung.
Nicht alle der meist völlig überladenen Boote erreichen ihr Ziel. Am Mittwoch meldet die Nachrichtenagentur Anadolu wieder, dass eines davon vor Ayvacik gesunken ist. 14 Flüchtlinge sind ertrunken, darunter sieben Kinder.
Zwischen den kurvigen Straßen von der Klippe zum Strand von Ayvacik sind immer wieder Männer zu sehen, die meist in Zweiergruppen von Autos oder Aussichtsplattformen aus das Geschehen beobachten. Glaubt man Anwohnern, gehören sie zu den Schleuserbanden. Sie sollen den Flüchtlingen die Wege zu den Abfahrtsstellen weisen - und allzu neugierige Fremde vertreiben.
Die Türkei ist das wichtigste Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa, von denen etliche die Route von Ayvacik nach Lesbos wählen. Die EU dringt darauf, dass die Türkei den Flüchtlingsstrom eindämmt. Davon ist in Ayvacik wenig zu spüren. Der Name Ayvacik steht sowohl für die türkische Kleinstadt, die weiter im Inland liegt, als auch für den gleichnamigen Landkreis, der zur Provinz Canakkale gehört und sich bis zur Ägäis-Küste erstreckt. Hier ist das westlichste Ende Asiens.
Anwohner warnen davor, sich in diesen Tagen an die Küste zu begeben. Sie sagen, dass bewaffnete Schleuserbanden das dortige Gebiet kontrollieren und unter sich aufgeteilt haben. Der Anwalt Yildirim Öney erzählt, wegen der Banden sei der Tourismus an der Küste zum Erliegen gekommen. Die Ernte der Oliven, die ein Markenzeichen der Region sind, sei so gut wie unmöglich. Öney selbst besucht sein Olivenfeld in Strandnähe seit einiger Zeit aus Angst nicht mehr: „Die Schleuser sind bewaffnet und warnen Anwohner, dort aufzutauchen.“
Die türkische Küstenwache hat in diesem Jahr nach eigenen Angaben mehr als 75 000 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa „gerettet“ - in vielen Fällen dürfte gemeint sein: gestoppt. Ein Vielfaches davon hat es dagegen in die EU geschafft. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind in diesem Jahr bereits rund 650 000 Menschen aus der Türkei über den Seeweg nach Griechenland gekommen. Unklar ist, ob die türkischen Sicherheitskräfte die vielen Flüchtlinge nicht stoppen können oder nicht stoppen wollen.
Aus Syrien, Afghanistan und vielen weiteren Ländern kommen täglich Flüchtlinge nach Ayvacik. Von einem „Ansturm“ spricht Bürgermeister Mehmet Ünal Sahin, ein Ende sei nicht in Sicht: „Ich gehe davon aus, dass die Flüchtlingswelle noch größer wird.“ Dabei ist die Lage jetzt schon dramatisch. Immer wieder kentern Flüchtlingsboote vor der Küste, die Zahl der Toten steigt. Begräbnisse und Trauerfeiern für Ertrunkene sind in Ayvacik inzwischen an der Tagesordnung.
Dieses Leid aus nächster Nähe mitbekommen zu müssen, sei für die Menschen in Ayvacik sehr schwer, sagt Sahin. Er erzählt von Särgen, in denen gleich mehrere tote Kinder zugleich beerdigt werden, und von Flüchtlingen, die den Tod ihrer Angehörigen nicht akzeptieren könnten. Sie warteten oft tagelang am Strand darauf, dass ihre Liebsten vielleicht doch noch lebendig aus den Fluten kommen.
„Wir haben dieses Problem nicht losgetreten, und wir werden es auch nicht lösen können“, sagt der Bürgermeister. Er nimmt die EU in die Pflicht. Die Flüchtlinge zum Bleiben in der Türkei bewegen zu wollen, sei zwecklos: „Sie wollen alle unbedingt nach Europa.“ Also müsse man dafür sorgen, dass dies möglichst sicher geschehe, durch seetaugliche Schiffe oder per Flugzeug. Dann wären auch die Schleuser an der Küste aus dem Geschäft. Sahin nennt sie „dunkle Gestalten“, die von außerhalb der Türkei kämen.
Je länger Sahin über die Lage redet, umso frustrierter wirkt er. Und das vor allem vom Verhalten „der Supermächte“, wie er sagt. Er ärgert sich darüber, dass diese „Bomben werfen, statt für Frieden zu sorgen“ und über „Verantwortliche, die weghören und die Sache ignorieren“. Das Fazit des Bürgermeisters: „Wenn Europa zur Ruhe kommen will, muss es der Flüchtlingswelle mit politischen und wirtschaftlichen Lösungen ein Ende setzen. Und nicht mit Waffengewalt.“
Überall in Ayvacik begegnet man Flüchtlingen, in allen Altersgruppen. Ganze Familien sind zusammen unterwegs und schleppen ihr wichtigstes Hab und Gut in Säcken mit. Manche tragen Rettungswesten für die geplante Überfahrt nach Lesbos bei sich. Wo sie unterkommen, hängt von ihrer finanziellen Lage ab. Die Wohlhabenderen mieten sich in Pensionen ein, der Rest muss sich auf der Straße durchschlagen. So wie der 25-jährige Khalid und seine drei Freunde.
Khalid war in seiner syrischen Heimat Schauspieler. Er erzählt, er sei zu Hause auf der Straße oft erkannt worden. Nun müsse er auf der Straße übernachten. „Nachts ist es klirrend kalt“, sagt Khalid. Er und seine Freunde sind zehn Tage zuvor angereist und sitzen auf einer Steintreppe ganz in der Nähe des Busbahnhofs. Hier werden die Geschäfte zwischen Flüchtlingen und Schleusern abgewickelt, die viel Geld mit den Überfahrten nach Lesbos verdienen.
Khalid weiß nicht, wann sein Boot nach Lesbos ablegt. Mittelsmänner hätten nur gesagt, dass es innerhalb der nächsten drei Tage soweit sein solle. Angst vor der Überfahrt, die mit Herbststürmen und sinkenden Temperaturen immer gefährlicher wird, habe er nicht. „Wir verlieren nie die Hoffnung und den Glauben an das Gute. Je mehr wir daran glauben, umso eher wird es klappen. Das ist es, was uns warm hält.“ Ziel der vier Freunde sei kein bestimmtes Land, sondern „einfach nur ein geregeltes Leben“.
Die Einwohner Ayvaciks schwanken zwischen Mitgefühl für die Betroffenen und Unmut über die Krise. „Die Menschen tun mir leid“, sagt Burhan, ein Schuhverkäufer im Stadtzentrum. „Ihre Kinder sterben, sie haben Hunger und Durst.“ Er erzählt, dass die Bewohner den Flüchtlingen im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit Kleider- und Essensspenden helfen. Gleichzeitig ärgert er sich über „Amerika und Europa“, die die Heimatländer der Flüchtlinge „destabilisiert“ hätten. „Und jetzt bieten sie der Türkei Geld an, damit die Leute hierbleiben. Warum sollten sie das? Man muss für Ruhe und Frieden in ihrer Heimat sorgen, damit sie dort bleiben können.“
Mit den Problemen und Spannungen steht Ayvacik stellvertretend für die Flüchtlingskrise. Denn hier kommen alle ihre Symptome zusammen: Verzweiflung, Hoffnung, Kriminalität, Überforderung, Tote. Und vor allem das Fehlen von Lösungen. Die Aussichten sind düster. „Bislang werden alle Leichen aus dem Meer geborgen“, sagt Bürgermeister Sahin. „Aber die Sicherheitskräfte kommen nicht mehr hinterher. Ich habe Angst, dass die Ägäis auf Dauer zum Friedhof wird.“