Umstrittene Maßnahmen gegen „Kontrollverlust“
Berlin/Nürnberg (dpa) - Mit immer neuen Weisungen und Maßnahmen zur Flüchtlingspolitik will Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die Kontrolle zurückgewinnen. Dazu gehören die vorübergehend eingeführten Grenzkontrollen ebenso wie die Entscheidung, bei Schutzsuchenden aus dem Bürgerkriegsland Syrien wieder das Dublin-Verfahren anzuwenden.
Wer hat die Entscheidung zu den Syrern eigentlich getroffen?
Das Innenministerium. De Maizière war auf jeden Fall informiert. Der Minister soll aber im Oktober nicht selbst mit dem Vizepräsidenten des Bundesamtes für Migration (BAMF), Michael Griesbeck, gesprochen haben, um die Wiedereinführung des Dublin-Verfahrens zu erwirken. Das übernahm dem Vernehmen nach ein Abteilungsleiter.
Welche Auswirkungen wird diese Entscheidung jetzt haben?
Auch nach der Entscheidung, auch bei Syrern wieder nach dem Dublin-Verfahren zu prüfen, ob für ihren Asylantrag nicht womöglich ein anderer EU-Staat zuständig ist, werden erst einmal nur sehr wenige von ihnen zurückgeschickt werden. Denn erstens ist die Prüfung der Zuständigkeit aufwendig, und zweitens waren von den zuletzt in Deutschland angekommenen Asylbewerbern angeblich ohnehin nur rund zwei Prozent in anderen EU-Staaten registriert worden. Das heißt, man wüsste gar nicht, wohin man sie zurückschicken sollte. Manche Innenpolitiker schätzen, dass weniger als 100 Menschen pro Jahr betroffen wären.
Wird das eh schon überlastete BAMF nun endgültig lahmgelegt?
Davon geht die Behörde nicht aus - sie befürchtet keine dramatischen Auswirkungen oder gar einen „Kollaps“ wie etwa „Pro Asyl“. Ein Sprecher sagte, Dublin entlaste das nationale Asylverfahren sogar, wenn die anschließende Überstellung der Menschen in ein anderes Land gelinge.
Bei wie vielen Syrern könnte Dublin überhaupt greifen?
Bis Ende Oktober wurden knapp 243 700 Syrer in Deutschland registriert - etwa 103 700 von ihnen haben auch schon ihren Asylantrag gestellt. Experten gehen davon aus, dass bei etwa 20 Prozent der syrischen Asylbewerber das Dublin-Verfahren angewendet werden könnte. Bisher wurden in diesem Jahr 169 Syrer nach den Dublin-Regeln von Deutschland andere EU-Länder zurückgeschickt. Die durchschnittliche Verfahrensdauer bei Syrern liegt derzeit bei 3,9 Monaten. Diese könnte sich nun wieder verlängern.
Warum dann der ganze Aufwand?
De Maizière geht es möglicherweise darum, ein Signal an die Syrer zu senden, die noch in ihrer Heimatregion sind und nun überlegen, ob und in welchem Land sie Schutz suchen sollen. Außerdem sollen die anderen EU-Länder, die Flüchtlinge so schnell wie möglich nach Deutschland weiterschicken und sich gegen eine umfassendere Umverteilung wehren, dadurch unter Druck gesetzt werden.
Ist das Dublin-Abkommen nicht sowieso schon klinisch tot?
Aus dem Bundesinnenministerium heißt es, man werde so lange am Dublin-Abkommen festhalten, bis es eine Alternative zu diesem Regelwerk gebe. In Berliner Regierungskreisen fragen sich manche auch, warum die EU-Kommission noch kein Vertragsverletzungsverfahren angestrengt hat gegen die Staaten, die keine Flüchtlinge registrieren.
Warum hat das BAMF die Wiedereinführung der Prüfung für Syrer nicht öffentlich gemacht?
Die Behörde ist mit solchen Bekanntmachungen generell sehr zurückhaltend - zumal die Entscheidung in Berlin getroffen wurde. Eine Ausnahme war die Aussetzung des Dublin-Verfahrens für Syrer Ende August. Nur weil damals ein internes Papier öffentlich geworden war, twitterte die Behörde am 25. August die Bestätigung.
Was passiert, wenn ein Asylbewerber in anderen Ländern, die er vor Deutschland durchquert hat, nicht registriert wurde?
Für ein erfolgreiches Dublin-Verfahren brauchen die Behörden Beweise: Fingerabdrücke, Tickets für Transportmittel oder andere Belege. Auch wenn ein anderer Mitgliedstaat ein Visum erteilt hat, wird auch ohne Registrierung ein Übernahmeersuchen an diesen Mitgliedstaat gerichtet. Ohne solche Beweise funktioniert in der Praxis eine Überstellung nach der Dublin-Verordnung nicht.
Ändert sich nun etwas an den deutschen Grenzen - werden dort jetzt etwa Asylbewerber direkt abgewiesen?
Nein. Die Wiederanwendung des Dublin-Verfahrens auch für syrische Flüchtlinge hat auf die Arbeit der Bundespolizei keine Auswirkungen. „Damit sind keine Zurückweisungen an der Grenze verbunden“, sagt ein Sprecher der Bundespolizei. Denn die Dublin-Prüfung dauert Wochen bis Monate. Deutschland muss zunächst ein Übernahmeersuchen an den betreffenden Mitgliedstaat stellen. Stimmt dieser zu, erhält der Asylbewerber einen Bescheid, gegen den er Widerspruch einlegen kann. Erst wenn der Bescheid rechtskräftig ist, vereinbaren die Länder die Art und Weise der Überstellung.