Krise in Venezuela „Viva Chávez“: Die Gegenrevolution von Caracas
Caracas (dpa) - Da stehen sie Seit an Seit, recken die rechte Faust, halten Bilder von Hugo Chávez hoch. Ganz vorn Delcy Rodríguez, die knallharte Ex-Außenministerin von Präsident Nicolás Maduro, im roten Hosenanzug.
Seine Vertraute, die nun eine Mission hat: Die Revolution retten.
Wo früher Panzer in Südamerika für Umstürze sorgten, putscht in Venezuela die Regierung gerade gegen die eigene Verfassung - mit einem scheindemokratischen Akt, für viele ein Putsch auf Raten.
Seit Freitag überschlagen sich die Ereignisse, am Sonntag kommt es zu einem Militäraufstand in einer Kaserne in Valencia, 170 Kilometer westlich von Caracas, der offensichtlich schnell niedergeschlagen werden konnte. Aber es brodelt im Land mit den größten Ölreserven.
Rodríguez ist nun die Vorsitzende einer 545 Mitglieder umfassenden „Volksversammlung“, in der aber nur ein Teil des Volkes sitzt, die Anhänger der Sozialisten. Sie tagen streng gesichert von Soldaten im Parlamentsgebäude. Das von der Opposition dominierte Parlament ist entmachtet. Maduros Volksversammlung ist die neue Staatsgewalt.
Die legt gleich los. Am Samstag fährt Militär am Sitz der schärfsten Widersacherin in den eigenen Reihen vor, die viele gerne im Gefängnis schmoren sehen würden. Generalstaatsanwältin Luisa Ortega, lange an der Seite der Chavistas, geißelt das Gremium - es führe in die Diktatur.
In der ersten Arbeitsitzung wird Ortega Díaz am Samstag abgesetzt. Ihre Konten werden eingefroren und sie darf das Land nicht verlassen. Maduro wird zum Paria des Westens, aber Länder wie China und Russland halten zum Zorn der USA ihre Hand über ihn. China investiert Milliarden und bekommt dafür Öl. „Venceremos“ („Wir werden siegen“), lässt Maduro wissen.
Offiziell soll die Versammlung die Verfassung reformieren, aber erst einmal geht es um anderes. Die Immunität bisheriger Abgeordneter, die Proteste auf der Straße organisiert haben, könnte rasch aufgehoben werden. Maduro sprach bereits von reservierten Gefängniszellen.
Zur Inthronisierung werden große Porträts mitgebracht. Von Simón Bolívar, dem Befreier von der spanischen Kolonialmacht, und Hugo Chávez, dem Begründer des Sozialismus-Projekts. Die Opposition hatte die Bilder 2016 entfernt. Nun hängen sie wieder. „Sie werden nie mehr verschwinden“, sagt Rodríguez. „Sie sind zurück, sie sind zurück“, jubelt die Menge.
Ein Rezept zur Lösung der dramatischen Krise hört man von Maduro dagegen nicht. Wer an der Müllkippe Bonanza bei Caracas vorbeifährt, sieht Menschen, die mit Geiern um Essensreste im Müll streiten. Im Land mit den größten Ölreserven werden über das Internet Hilferufe nach Medikamenten abgesetzt, die Kindersterblichkeit steigt rasant.
„Sie interessiert mehr die Geste, die Bilder von Chávez wieder in der Nationalversammlung aufzuhängen, als die schreckliche Krise des Landes zu lösen“, meint der bekannte Schriftsteller Leonardo Padrón.
Caracas, nach dieser Stunde null, sieht so aus: Die Sozialisten obenauf, eine resignierte, über die Taktik streitende Opposition, die erstmal nicht mehr demonstriert. Ihr trauen viele genauso wenig, da deren Parteien vor Chávez für Korruption und Elitenpolitik standen.
Die Inflation, die höchste der Welt, explodiert derart, dass der monatliche Mindestlohn im Juli von 65 021 Bolivares auf 97 531 Bolivares angehoben werden musste. Das sind aber auch nur noch 6,50 Dollar. Nach dem Start der Verfassungsgebenden Versammlung ist der Dollarkurz auf dem Schwarzmarkt explodiert. Ein Nebeneffekt: Für einen Dollar kann man dieser Tage 3000 Liter Benzin tanken, das ist kein Scherz.
Viel ist nun vom zweiten Kuba die Rede, aber eigentlich ist es ein Land in Anarchie mit Mafia-ähnlichen Strukturen. Völlige Unsicherheit, auf Friedhöfen werden sogar Grabsteine gestohlen, um sie zu Geld zu machen. Und für ein Handy werden Menschen getötet.
Um treue Anhänger in den Armenvierteln, die dank lange sprudelnder Öleinnahmen erstmals eine Anerkennung und Aufwertung erfuhren, bei der Stange zu halten, gibt es das „Carnet de Patria“, eine Art „Ich-halte-zu-Maduro-Ausweis“: Wer seine Unterstützung zusichert, bekommt hierüber stark vergünstigte Lebensmittelpakete, während die Gegner stundenlang vor oft leeren Supermärkten Schlange stehen.
Zu Beginn dieser neuen Zeitrechnung fuhren die Mitglieder der „Volksversammlung“ auch zum Chávez-Mausoleum, oben auf einem Berg in der Militärfestung Cuartel de la Montaña. Wer hier als Tourist zum Grab will, muss durch ein gefährliches Viertel der Chavistas fahren, sollte ein rotes Hemd tragen und sich als Linker ausgeben - wie ein Krebs zerfrisst das Freund-Feind-Denken das ganze Land.
Nun gibt es in Venezuela zwei Parlamente. Die Asamblea Nacional (AN) mit einer satten Mehrheit des Oppositionsbündnisses „Mesa de la Unidad Democrática“ (MUD). Und die Asamblea Nacional Constituyente (ANC), mit Rodríguez an der Spitze.
Die ANC könnte lange tagen, von zwei Jahren ist die Rede, dann müsste sich Maduro auch nicht 2018 zur Wahl stellen. Mit dem Rücken zur Wand hatte er im Mai das Projekt verkündet. Und jetzt hat er, mit Militär und Polizei im Rücken, die Gegner erst einmal schachmatt gesetzt.
Das Oppositionsbündnis boykottierte die letzte Wahl. Diese wurde von massiven Schummelvorwürfen begleitet. Womöglich unterstützten statt 41 nur rund 20 Prozent der Wahlberechtigten das Projekt Maduros - das wäre wenig Rückhalt für solche Umwälzungen. Maduro stört das nicht.
Venezuelas Geschichte ist geprägt von Kontinuitäten: Von der viel zu starken Abhängigkeit vom Öl, von einer polarisierten Gesellschaft und von blutigen Machtkämpfen. Unvergessen bleibt der „Caracazo“ von 1989, als sich an Preiserhöhungen blutige Unruhen mit Hunderten Toten entzündeten.
Es folgten Jahre der Instabilität, bis Hugo Chávez 1999 übernahm. Sein Erbe wird nun fast um jeden Preis verteidigt. Besucher werden schon am Flughafen mit dem warnenden Slogan empfangen: „Aqui no se habla mal de Chávez“ - „Hier redet man nicht schlecht über Chávez.“