Wo der Chef zur Geisel wird
Proteste der Mitarbeiter gegen Entlassungen werden immer rabiater.
Paris. Aus Sicht Omars war die ganze Geschichte harmlos. "Er hätte gehen können, wenn er gewollt hätte. Aber er wollte nicht." Omars maliziöses Lächeln muss man sich bei diesem Satz dazu denken. Omar gehört zu jenen robusten Typen in der linksradikalen französischen Gewerkschaft "Force Ouvriere", denen man gerne den Ordnerjob auf Demos überträgt.
Zuletzt hat Omar auch eine Rolle gespielt, als einige seiner Kollegen den Betriebsdirektor der Batteriefabrik von Auxerre recht unsanft in ihre Mitte nahmen, ihm dabei ruppig ein Protest-T-Shirt überstreiften und ihn dann nötigten, auf einer Demo gegen den geplanten Abbau von Jobs in ihrem Werk mitzumarschieren. Aus freien Stücken sei Monsieur Royer, der Direktor, mitgegangen, sagt Omar.
Eine Darstellung ist das, der Yvonne Russo entschieden widerspricht. "Er hat die Demo nicht verlassen, weil es Drohungen gegen seine Familie gab", sagte die oberste Chefin des US-Unternehmens Exide Technologies, zu dem die Batteriefabrik von Auxerre gehört, der Pariser Zeitung "Le Monde".
Frankreichs Bosse bekommen den Zorn ihrer Angestellten immer häufiger am eigenen Leib zu spüren. Die Wut vieler, denen die Entlassung in diesen Krisenzeiten droht, entlädt sich und richtet sich ziemlich direkt gegen die "weißen Kragen".
Freiheitsberaubung auf den Chefetagen banalisiert sich. "In nur einigen Monaten haben sich die Einstellungen geändert", klagte der Personalchef eines großen französischen Unternehmens. Im letzten Jahr noch, als er den konsternierten Beschäftigten eines Filialbetriebs einen Personalabbau ankündigen musste, "hat man mir nur mein Auto für eine Nacht konfisziert".
Aber "wenn ich heute irgendwo hinfahre, um schlechte Nachrichten zu überbringen, packe ich immer vorsorglich ein paar Hemden zum Wechseln ein", lässt er sich zitieren. Der Trend, die Bosse festzusetzen, sie einzusperren, um ohne den Umweg über die Gewerkschaften höhere Abfindungen und bessere Sozialpläne zu erpressen, greift um sich.
Der Direktor von Sony France etwa kam erst frei, nachdem er Nachverhandlungen zugesichert hatte. 14 Stunden hatten aufgebrachte Arbeiter den Patron ihres Unternehmens, das im April seine Pforten im südwestfranzösischen Pontonx-sur-l´Ardour für immer schließen will, in seinem Chefbüro eingeschlossen. In Pithiviers in Zentralfrankreich setzten Beschäftigte des 3M-Konzerns ebenfalls den Werksdirektor 26 Stunden fest und ertrotzten so neue Gespräche.
Selbst einer der reichsten Männer Frankreichs bekam den Zorn zu spüren. Nach einer Konferenz kesselten wütende Beschäftigte den Milliardär Francois-Henri Pinault eine Stunde lang in seinem Taxi ein, um gegen den Abbau von 1.200 Arbeitsplätzen bei Pinaults Handelsketten Conforama und Fnac zu demonstrieren. Nahe ging Pinault dies sichtlich nicht. Pinault telefonierte ungerührt, was die Zerrbilder über Frankreichs zynische Patrons nur bestärkte.
Gänzlich neu sind solche Methoden gegen die Chefs, die im Ansehen der gleichheitsverliebten Franzosen gleich neben Aktien-Spekulanten rangieren, freilich nicht. Bei den Mai-Unruhen von 1968, aber auch in den 70er Jahren gehörten Betriebsbesetzungen und das Festsetzen des Chefs zur Praxis. Daher stammt das Bonmot in Unternehmerkreisen, vor Streiks und Sozialplanverhandlungen Zahnbürste und Rasierer im Büro zu deponieren.
Doch damals ging es zumeist um höhere Löhne, verbesserte Arbeitsbedingungen und mehr Mitbestimmung. Heute speist sich die Radikalität aus der Verzweiflung, bald auf der Straße zu stehen. Allein 80.000 neue Arbeitslose zählte Frankreich im März.
Die Arbeiter gingen auf die Barrikaden, "weil sie nichts mehr zu verlieren, aber auch nichts mehr zu gewinnen haben", sagt der burgundische Gewerkschafter Patrick Rouvrais. Ersatzarbeitsplätze sind in der Tat selten.
Das gilt auch für die 1.200 Continental-Werker in der nordfranzösischen Region Picardie, die bei der Ankündigung aus Deutschland, den Betrieb dicht zu machen, fast der Schlag traf. Dabei hatten sie sich sicher gewähnt nach der Zustimmung vor zwei Jahren zur 40-Stundenwoche ohne Lohnausgleich.
Der Präsident hat sich inzwischen in diesen Konflikt, der sich zunehmend zum Symbol der Krise auswächst, eingeschaltet, mit schweren Vorwürfen in Richtung der Deutschen. "Diese Leute stehen nicht über dem Gesetz", grollte Nicolas Sarkozy. So etwas sagt er natürlich auch, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen. Im Elysée wächst längst die Angst vor einem Flächenbrand der Revolte.