Weiterrollen trotz Plattfuß: Neue Chance für Notlaufreifen
München (dpa/tmn) - Im Prinzip sind Notlaufreifen eine feine Sache: Bei einer Reifenpanne kommt man damit noch problemlos bis zur nächsten Werkstatt. Auf dem Automarkt kamen sie aber bisher nicht so recht ins Rollen.
Jetzt sind die Kinderkrankheiten offenbarkuriert.
Sie rollen einfach weiter, wenn die Luft raus ist. Und zwar so gut, dass der Autofahrer den Plattfuß im ersten Moment gar nicht bemerkt. Die Rede ist von Notlaufreifen, auch Runflat-Reifen genannt. Kurz nach der Jahrtausendwende galten diese Gummis als Allheilmittel gegen die Gefahren einer Reifenpanne und als sinnvollste Lösung, um das Ersatzrad im Wagen einzusparen. Nur durchgesetzt haben sich die Sorglos-Pneus damals nicht: Sie hatten Kinderkrankheiten. Nun könnten sie eine neue Chance bekommen - und der Horror eines Reifenplatzers während der Fahrt wäre ein für alle Mal Geschichte.
Die Idee war schon damals gut, doch die Technik noch nicht reif: Als mehrere große Reifenhersteller Anfang des vergangenen Jahrzehnts versuchten, die Autobauer von Runflats als künftigem Standard für Neuwagen zu überzeugen, mussten sie eine Schlappe einstecken. „Vor allem beim Komfort konnten die Pneus nicht mit konventionellen Reifen mithalten“, erinnert sich Thomas Kroher, Reifen-Spezialist beim ADAC, an einen der großen Hemmschuhe. „Die frühen Runflat-Reifen waren viel härter und federten schlechter.“
Eine gewisse Härte liegt in ihrer Natur: Runflats haben zumeist verstärkte Flanken, die das Gummi in Form halten, wenn die Luft entweicht. „Man kann dann damit noch 80 Kilometer mit Tempo 80 weiterfahren - das müssen sie aushalten“, erklärt Kroher. Das daraus resultierende Komfortproblem scheinen die Reifenentwickler jedoch mittlerweile in den Griff bekommen zu haben.
Ein Test des österreichischen ADAC-Partnerclubs ÖAMTC mit drei Runflat-Modellen eines Herstellers zeigte exemplarisch, dass Notlaufreifen bei Komfort und Rollwiderstand, der sich auf den Spritverbrauch auswirkt, heute ähnlich gute Leistungen bringen wie die gleichen Reifen ohne Pannenschutz. „Vor allem bei dem Testreifen, mit dem BMW auf Wunsch Neuwagen ausrüstet, gab es kaum Unterschiede zum Pendant ohne Runflat-Technik“, berichtet Kroher. Die Runflats für den Ersatzmarkt und den Winterbetrieb seien dagegen noch nicht ganz so weit, sie hätten im Test noch leichte Schwächen im Komfort gezeigt. „Der unterschiedliche Entwicklungsstand lässt sich durch die ambitionierten Vorgaben des Autobauers erklären.“
BMW zählt neben Mercedes und Audi zu den wenigen Autoherstellern, die Runflat-Reifen ab Werk für ihre Fahrzeuge anbieten. Der Münchner Hersteller hielt von Anfang an große Stücke auf die Notlauftechnik und hat seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts für seine gesamte Modellpalette Runflats im Programm. Für andere Autobauer waren sie allein schon aus Kostengründen nie ein Thema, sagt Stefanie Senft vom Verband der Automobilindustrie (VDA). Denn Notlaufreifen sind teurer als herkömmliche Pneus.
In Goldgräberstimmung hätten Reifenhersteller, die Notlauf-Pneus anbieten konnten, anfangs Preisaufschläge von bis zu 30 Prozent verlangt, berichtet ein Branchen-Insider - technisch gerechtfertigt seien 10 bis 15 Prozent. „Vor den Mehrkosten schreckten viele Fahrzeughersteller zurück“, sagt Senft. Zumal sich ein Reserverad im Auto viel kostengünstiger durch ein Pannen-Set mit Dichtmittelspray und Mini-Kompressor ersetzen lässt. „Allerdings hilft Autofahrern so ein Set, mit dem heute der Großteil aller Pkw ausgerüstet ist, bei neun von zehn Reifenpannen nicht weiter. Damit bekommen Sie höchstens ein kleines Loch auf der Lauffläche dicht“, gibt Kroher zu bedenken.
Nach Ansicht von Kroher sind „salonfähige Runflat-Reifen im Moment der beste Ersatz fürs Ersatzrad“. Bei einer Reifenpanne während der Fahrt gerieten Autos damit selbst bei hoher Geschwindigkeit nicht ins Schleudern. Das sei bisher noch anders, betont er: „Vom Statistischen Bundesamt werden jedes Jahr mehr als 2000 Unfälle durch defekte Reifen erfasst, teils mit tödlichem Ausgang.“ Ein weiterer Vorteil der Runflats: „Man kann einfach bis zur nächsten Werkstatt weiterfahren und muss sich nicht am Straßenrand unter Lebensgefahr neben dem fließenden Verkehr um einen Plattfuß kümmern.“
Kroher hofft, dass Runflat-Reifen bald aus der Nische rollen und sich zugunsten der Verkehrssicherheit ein ernstzunehmender Markt dafür entwickelt - „mit guten und bezahlbaren Produkten“. Die technischen Voraussetzungen dafür sind geschaffen, sagt Hans-Rudolf Hein, Runflat-Experte bei Bridgestone: „In den vergangenen zehn Jahren hat die Entwicklung der Notlaufreifen rasant Fortschritte gemacht, sie konnten mit gewöhnlichen Stahlgürtelreifen gleichziehen.“ Bevor Hein bei dem Reifenhersteller einstieg, war er bei BMW als Projektleiter maßgeblich an der serienmäßigen Einführung von Runflats beteiligt.
Runflats der neuesten Generation seien leichter und so komfortabel wie Standardreifen, sagt auch Mirko Kraus, Pressesprecher bei Goodyear Dunlop. Notlaufreifen seien für das Unternehmen „nach wie vor ein wichtiges Thema, das immer weiter vorangetrieben wird“.
„Trotz aller Verbesserungen hängt der Durchbruch von Runflat-Reifen aber stark von den Autobauern als Erstausrüster ab, weniger vom Ersatzmarkt“, glaubt Kroher. Man könne nicht jedes x-beliebige Auto damit ausrüsten, es müssten bestimmte technische Voraussetzungen erfüllt sein: „Durch die steiferen Reifenflanken wirken beim Fahren besondere Kräfte auf die Radaufhängung, die deshalb verstärkt sein muss.
Außerdem brauchen Autos für die Ausstattung mit Runflats eine Reifendruckkontrolle, damit der Fahrer sofort mitbekommt, wenn er einen Platten hat.“ Neuere Autos haben so ein Kontrollsystem oft schon an Bord - ab November 2014 müssen nach einer EU-Richtlinie alle Neuwagen ab Werk damit ausgestattet sein.
Wer seinen Wagen mit Runflats sicherer machen will, dem empfiehlt Hans-Jürgen Drechsler vom Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV): „Fragen Sie beim Autohändler nach, ob für ihr Fahrzeug optional Runflat-Reifen angeboten werden.“ Ist das der Fall, sei die Nachrüstung bedenkenlos möglich. Ein Reifendruckkontrollsystem könne an jedem Wagen nachgerüstet werden. Kostenpunkt laut ADAC: ab 200 Euro aufwärts plus Montage.
Von den 47,7 Millionen Pkw-Reifen, die nach BRV-Angaben im Jahr 2012 auf dem Ersatzmarkt verkauft wurden, waren 1,85 Millionen Runflats; 2005 waren es 800 000 von 53,9 Millionen. „Die Montage von Notlaufreifen dürfen nur zertifizierte Betriebe übernehmen, sie haben das Spezialequipment und das Know-how“, betont Drechsler. Für Werkstätten mit dem Zertifikat des Wirtschaftsverbands der deutschen Kautschukindustrie (wdk) bietet die BRV-Homepage eine Suchfunktion.