Oper in Essen: Jetzt spielen wir mal China ganz brutal
Tilman Knabe inszeniert „Turandot“ in Essen.
Essen. Ein Schuss gellt, sie sinkt nieder. Aus Liebe zum Tatarenprinzen Kalaf hat sich die chinesische Sklavin Liù niedergestreckt. Nach einer Weile eilen Arbeiter herbei, betten den Leichnam auf eine hochstellbare Holzpritsche. Ein Müllsack bildet den blauen Heiligenschein, den auf- und ausblinkende Lämpchen bekrönen; Plastikblumen werden in die eilends gefalteten Hände gesteckt. Die Masse ist ergriffen von der neuen Märtyrerin.
Nun soll ein leidenschaftlicher Kuss den Stahlpanzer der traumatisierten Prinzession Turandot sprengen - allein, Regisseur Tilman Knabe gönnt ihn weder ihr noch uns. Stattdessen fällt der Prinz über sie her und zeugt mit mannhafter Stoßlust einen Nachkommen. So lustig kann Oper sein - fast wie die fade Samstagsabendsoap, denn für Skandale à la Calixto Bieito - Osmin im Bordell - fehlt es noch. Es ist die erste "Turandot" in der Amtszeit von Generalmusikdirektor Stefan Soltesz, und ihm gefällt das Konzept.
Für die Sänger, vor allem für die ukrainische Sopranistin Olga Mykytenko (Liù) und den Tenor Dario Volonté (Kalaf) rauschten üppige Ovationen, große Anerkennung fand Sopranistin Iréne Theorin (Turandot). Gefordert waren die Musiker der Essener Symphoniker und die voluminösen Chöre (Leiter: Alexander Eberle), da Soltesz Knabes plumpe Verheutigung übernimmt und so an Puccinis Klangwelt lautstark vorbeidonnert.
Giacomo Puccini (1858-1924) arbeitete mit größter Sorgfalt an dieser Oper, die er wegen seines Kehlkopfkrebses nicht vollenden konnte. Ihn faszinierte der Plot: Nachdem Tataren eine Vorfahrin Turandots verschleppten, liegt das Gebot der Rache wie Mehltau über dem Riesenreich China: Nur der erhält die Prinzessin, der drei Rätsel löst, andernfalls wird er geköpft. Das Volk johlt und jubelt, wie zu allen Zeiten.
Das Original spielt zu einer unbekannten Zeit in einem Märchenland, hier sind es die Betonsteine eines diktatorischen Staatsgebildes (Bühne: Alfred Peter) ähnlich der DDR oder Rumänien nach ihrem Untergang. Bei Puccini stiftet der Kuss die Erlösung, hier reißt ein Macho-Vergewaltiger, in neuer Tyrann die Staatsmacht an sich. Dort eine zutiefst traumatisierte, verletzte Frau, hier eine brutale Monarchin, die sinnlos töten lässt. Dort gibt Kalaf sich in ihre Hand, hier reißt er ihre an sich. Dort Palastgarten und Pavillon, hier nichts als trostlose Betonwüste. Und blutbeschmierte halbnackte "Geister". Muss man mehr erzählen?