Premiere: Winslet begeistert in Berlin
Bei den Filmfestspielen zeigt Regisseur Stephen Daldry seine sensible und schnörkellose Adaption des Romans „Der Vorleser“.
Berlin. Wenn sich Kino mit Verdrängung beschäftigt, baut sich stets ein unfreiwilliger Widerspruch auf. Denn das Medium Film ist ein Paradebeispiel für die vielen Möglichkeiten, eigene Probleme beiseite zu schieben.
Trotzdem scheint Verdrängung bei der diesjährigen Berlinale eines der beherrschenden Themen zu sein. Was tut der Mensch, um Unliebsames zu vergessen und Schuldgefühle verschwinden zu lassen?
In Bernhard Schlinks "Der Vorleser" überbieten sich die beiden Hauptfiguren förmlich darin, das Gewesene durch zwanghaftes Ignorieren ungeschehen zu machen. Der Roman von 1995 ist das international meistgelesene deutsche Buch seit der "Blechtrommel". Am Freitag feierte die Verfilmung in Berlin ihre Deutschlandpremiere.
Regisseur Stephen Daldry ist eine sensible, bewusst schnörkellose, gleichzeitig aber auch ungemein intensive Adaption des komplexen Stoffes gelungen. Der Grundton steht damit in der Tradition Schlinks, analytische Sprache zu sinnlichen Momenten zu verdichten.
Da ist diese Szene, ganz zu Anfang, wenn die einsilbige Mittdreißigerin Hanna Schmitz dem verschüchterten Teenager Michael Berg in den verstockten Nachkriegs-50ern ihre unterdrückte Lust aufdrängt. Kate Winslet legt jede Geschmeidigkeit, jede Weltgewandtheit ab und lässt diese Hanna tatsächlich so wiederauferstehen, wie man sie sich bei der Lektüre des Buches vorgestellt hat.
Grobschlächtig und ausdruckslos nähert sie sich dem "Jungchen", wie sie Michael nennt. Die Erotik entsteht dabei nur aus seinem pubertären Schlüssellochblick, der den Reiz des Verbotenen preisgibt.
Bei aller Gegensätzlichkeit dieser beiden Menschen - er hoffnungsvoller Spross aus bildungsbürgerlichem Hause, sie eine einfältige Angestellte im öffentlichen Dienst - entwickelt sich so etwas wie eine Beziehung. Sie mag es, wenn er ihr aus den Büchern vorliest, die in der Schule durchgenommen werden. Warum, wird Michael erst zehn Jahre später erfahren, wenn er als Jurastudent einem Kriegsverbrecherprozess beiwohnt, in dem Hanna eine der Hauptangeklagten ist.
Dem 18-jährigen David Kross, der im vergangenen Jahr bereits als Titelheld in "Krabat" überzeugte, gelingt eine ungeheuer vielschichtige Darstellung dieses jungen Mannes. Als Verführter wechselt er virtuos zwischen Euphorie, Unsicherheit und pubertärer Verzweiflung. Später als Student macht er die Enttäuschung spürbar, mit der Michael begreifen muss, dass er sich seine Unschuld einst von einer Frau nehmen ließ, deren Schuld zu schwer wiegt, um ihr verzeihen zu können.
In einer der stärksten Szenen des Films macht sich das zum Mann gereifte Jungchen auf den Bußgang nach Auschwitz. Am liebsten möchte er alle Schuld seiner Vorfahren auf sich laden, um seine Gefühle für Hanna rein zu waschen. Beim Blick auf die Duschköpfe der Gaskammer erkennt er, dass er es nie können wird.
Trotz aller geschichtlichen Aufarbeitung, die Vorlage und auch Film leisten, rückt das Thema Holocaust nie in den Vordergrund: "Für mich ist es ein Film über die Liebe", sagte denn auch Kate Winslet gestern auf der Berliner Pressekonferenz. "Die Fragen, wie schwer Hannas Schuld wiegt, zeigen nur, wie intensiv die Gefühle der beiden füreinander sind."
Die 33-Jährige zeigte sich gut gelaunt und gewohnt schlagfertig. Selbst über die ärgerlichen Fragen nach ihrer hohen Schlagzahl an Nacktszenen ging sie mit britischer Gelassenheit hinweg. Dafür lobte sie die "tadellose Zusammenarbeit" mit Ko-Star Kross, der prompt leicht errötete.
Der nächste große Termin für Kate Winslet wird der 22. Februar sein. Dann zeigt sich, ob sie für ihre Leistung in "Der Vorleser" den Oscar erhalten wird. Der Berlinale hat sie auf jeden Fall bereits ihren ersten echten Höhepunkt geschenkt.