Toulouse-Lautrec: Chronist der Pariser Boheme
Paris (dpa) - Jane Avril, die Hochexplosive, und „La Goulue“, die Gefräßige, feiern derzeit große Auftritte. Lieblingstänzerinnen des Malers und Grafikers Henri de Toulouse-Lautrec, die auf Plakaten in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in ganz Paris abgebildet waren.
Zum 150. Geburtstag des Künstlers sind sie in großen Ausstellungen unter anderem in New York und Wien zu sehen. Damals wurde der am 24. November 1864 im südfranzösischen Albi geborene Aristokratensprössling als Maler des Pariser Nachtlebens gefeiert, heute als Meister der Plakatkunst, Vorläufer der Moderne und Chronist einer Epoche.
Toulouse-Lautrec war in der Pariser Nachtwelt zwischen dem Place Pigalle und dem Place Blanche zuhause; dort, wo noch heute das Moulin Rouge und viele Sex-Shops ihre Adresse haben. In den Amüsierbetrieben fand er seine Themenwelt, wie das Museum of Modern Art in New York, das MoMA, noch bis zum 22. März zeigt. Über 100 Lithografien, Plakate und Gemälde illustrieren das vergnügungssüchtige Fin de Siècle, in dem Toulouse-Lautrec sein kurzes Leben führte. Er war 36, als er am 9. September 1901 an den Folgen von Alkoholmissbrauch und Syphilis starb.
Er stammte aus einem der ältesten und reichsten Adelshäuser Frankreichs. Um den Besitzstand zu wahren, deren Ahnenstamm bis auf Karl den Großen zurückgeht, heiratete man innerhalb der Familie. Seine Eltern waren Cousin und Cousine. Toulouse-Lautrec litt nach heutigen Erkenntnissen an einem Knochenleiden, das sein Wachstum behinderte. Er wurde nur knapp über 1,50 Meter groß. Mit der von den Eltern gewünschten militärischen Karriere war es somit vorbei. Statt zu reiten, begann er mit dem Malen.
Mit Gehstock und auf spindeldürren Beinen ging er als junger Erwachsener nach Paris. Vor allem im legendären Tanzpalast Moulin Rouge am Boulevard de Clichy war Toulouse-Lautrec zuhause. Er zeichnete die Tänzerinnen vorzugsweise beim wilden Cancan. Zu seinen Lieblingsfrauen gehörten Jane Avril, die ihre Beine wie „Orchideen im Delirium“ bewegt haben soll, oder die derbe „La Goulue“, die deshalb die Gefräßige genannt wurde, weil sie die Angewohnheit hatte, die Gläser der Gäste leer zu trinken.
Vornehme Herren, die in Cabarets in Gesellschaft von Huren an Tischen mit Champagnergläsern saßen. Frauen, die sich breitbeinig ausruhen oder vor dem Spiegel kämmen: Kein anderer wagte einen so tiefen Einblick in das Rotlichtmilieu seiner Zeit. Doch seine Bilder waren mehr als nur ein Blick in die Bordelle und die republikanische Dekadenz. Sie trugen zur Anerkennung des Plakats als Kunstform bei. Dabei sei nur an das weltberühmte Plakat des Chansonniers und Satirikers Aristide Bruant mit Gehstock und schwungvoll gewundenem roten Schal zu denken.
Seine freie Auffassung von Malerei stand im Gegensatz zum vorherrschenden Akademismus, wie das Bank Austria Kunstforum in Wien zeigt. Mit seiner bis zum 25. Januar dauernden Retrospektive zu Toulouse-Lautrecs 150. Geburtstag illustriert es den Künstler als Wegweiser in die Moderne. Unter dem Einfluss des japanischen Holzschnitts entwickelte Toulouse-Lautrec schon früh einen plakativen Flächen- und Linienstil, der mit klarer Konturen das Abgebildete auf wesentliche Formen reduziert.
Meister der Plakatkunst, Vorläufer der Moderne und Chronist des Pariser Nachtlebens: Toulouse-Lautrec hat heute einen festen Platz im kollektiven Kunstgedächtnis, wie die internationalen Werkschauen zu seinem Geburtstag zeigen.