Neues Buch über den Künstler Gerhard Richters Bilder mit doppeltem Boden

Düsseldorf · Ein Kunsthistoriker stellte im Kunstpalast ein neues Buch über den Maler Gerhard Richter vor.

Gerhard Richter – hier im Jahr 2018 – ist vor allem für seine stark übermalten Fotografien bekannt.

Foto: dpa/Rolf Vennenbernd

Über Gerhard Richter ist schon alles gesagt und geschrieben worden, nur noch nicht von allen. Wer so denkt, durfte sich bei einer Lesung, zu welcher der Verein der Freunde des Kunstpalastes eingeladen hatte, auf unterhaltsame Weise eines Besseren belehren lassen. Der 86-jährige Kunsthistoriker und Kurator Uwe M. Schneede, der seine Laufbahn 1967 als wissenschaftlicher Assistent an der neu gegründeten Kunsthalle Düsseldorf begonnen hatte und später als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München wirkte, stellte sein neues Buch vor: „Gerhard Richter – Der unbedingte Maler“. Im Gespräch mit Felix Krämer, Generaldirektor und Leiter der Stiftung Museum Kunstpalast, offenbarte er seine Perspektive auf Richters Lebenswerk.

Schneede begann mit einer Erinnerung an seine kurze Zeit in Düsseldorf, wo er Richter zwar nicht begegnete, aber ihn doch gelegentlich sah: als eine höchst elegante Erscheinung, die aus dem studentischen Milieu der Kunstakademie hervorstach. So sonderte sich der Maler früh ab.

Was Schneede reizte, der Bitte des Verlags C. H. Beck um ein Buch über Richter zu entsprechen, war der Umstand, dass ihn Richter faszinierte als einer, der sich in vielen Richtungen erprobte, vor der Grenze zur Abstraktion aber stets zurückwich. Man mag dagegenhalten, dass ungegenständliche Bilder einen großen Teil seines Schaffens ausmachen, doch den Ausgangspunkt bilden in der Regel Erscheinungen aus der Wirklichkeit. Schneede wies darauf hin, dass unter einem scheinbar abstrakten Bild zuweilen 31 Schichten liegen, die Richter in anstrengender körperlicher Aktion mit der Rakel übermalt hat. Am Ende steht das Bild eines „unbedingten Malers“ – ein Bild, das er selbst kaum noch versteht. „Meine Bilder sind klüger als ich“, hat Richter einmal gesagt und zum weltweiten Zitieren freigegeben. „Genau das ist es, was die Bilder so lebendig macht“, fügte Schneede hinzu.

Bei Betrachtung der „abstrakten“ Bilder gelangte er zu dem Schluss, dass man von jenem Prozess der Entstehung ausgehen müsse, um sie zu begreifen. Bei seiner Schreibarbeit versicherte er sich immer wieder des Rates von Richter. Menschlich scheinen sich die beiden nur begrenzt nahegekommen zu sein. Schneede nannte Richter „in höchst sympathischem Maße distanziert“. Andere haben ihn aus der Nähe anders erlebt.

Distanziert war Richter unbestreitbar gegenüber seinem in der DDR entstandenem frühen Schaffen. Er nahm es nicht in sein Werkverzeichnis auf – jene Staatsaufträge, die im Stile des Sozialistischen Realismus entstanden, Wandbilder wie etwa „Arbeiterkampf“. In letzter Zeit ist in Ost- und in Westdeutschland ein neues Interesse daran erwacht.

Richters Werkverzeichnis beginnt dennoch nach wie vor mit einem Bild, das er 1962 in Düsseldorf schuf: „Tisch“. Es verbindet das, was der Titel verspricht, mit einer Übermalung, die den Tisch in seiner Mitte unkenntlich macht. Andere frühe Bilder aus der Düsseldorfer Zeit fanden vor Richters Augen keine Gnade. Er hat sie vernichtet.

Was dem „Tisch“ das Leben rettete, war vermutlich das, was Richter genauso wie Schneede festgestellt hat: Im Tisch ist das gesamte Programm seines künftigen Schaffens enthalten: die Mischung aus Abstraktion und Gegenständlichkeit. Richter empfindet beide als gleichwertig. Entsprechend sind ihm Vermeer, Pollock und Karl Otto Götz gleich wichtig. Davon kann man sich in der Richter-Ausstellung des Kunstpalasts überzeugen.

Schneede hob hervor, dass Richter extrem langsam arbeite. Was daraus durch die Übermalungen erwächst, habe durchweg „etwas Bezwingendes“. Noch etwas fiel dem Kunsthistoriker auf: Richter verstehe sich zwar nicht als Gesellschaftskritiker, doch er nähere sich seinen Themen oft „vom Rande“. Das gelte besonders für die Werke, die sich mit dem Nationalsozialismus befassen. Wer ohne Vorwissen auf „Tante Marianne“ von 1965 blickt, wird nicht mehr als ein nettes lächelndes Mädchen mit dem kleinen Gerhard Richter auf Kissen und Tüchern erkennen. In Wirklichkeit erkrankte Marianne wenige Jahre nach Entstehung der dem Bild zugrunde liegenen Fotografie an Schizophrenie und fiel den nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen zum Opfer. Sie starb am 16. Februar 1945.

Schneede nennt solche Darstellungen „Bilder mit doppeltem Boden“. Dazu zählen ebenso Richters „Onkel Rudi“, sein RAF-Zyklus und sein Zyklus „Birkenau“. Richter hat diese Arbeiten als Erledigungen bezeichnet.

Zum Schluss des Gesprächsabends gestand Schneede, dass sein Buch über Richter sein erstes über einen noch lebenden Künstler sei: „Ein merkwürdiges Gefühl. Da ist irgendwo ein Partner, der aufpasst“. Aus diesem Gefühl erlöste den Kunsthistoriker eine kurze schriftliche Reaktion auf das frisch gedruckte Buch: Gerhard Richter war, wie Schneede erleichtert berichtete, mit allem einverstanden.

(bm aku)