Christian Thielemann über seine Leidenschaft für Wagner

Chicago/Dresden (dpa) - Christian Thielemann (54) gilt als begnadeter Wagner-Dirigent. Unlängst hat er sein Buch „Mein Leben mit Wagner“ veröffentlicht.

An diesem Mittwoch (22. Mai) feiert die Musikwelt den 200. Geburtstag des Komponisten. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa sprach der Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden über seine Leidenschaft. Das Interview wurde an einem geschichtsträchtigen Ort geführt - in jenem Restaurant in Chicago, wo Thielemann vor Jahren auf den Enkel Richard Wagners traf und eingeladen wurde, auf Bayreuths Grünem Hügel zu dirigieren.

Christian Thielemann, seit mehr als 40 Jahren leben Sie jetzt mit Richard Wagner. Was ist das für ein Typ, dieser Wagner?

Christian Thielemann: „Ein Menschenfischer. Das sagt alles. Er zieht einen mit sich - und auch ich musste ihm folgen. Ich habe wenig Verständnis, wenn jemand mit ihm nichts anfangen kann - es sei denn, derjenige ist unmusikalisch oder ihn überfordert die Intensität der Beziehung. Jede gute Beziehung ist intensiv, mögen Sie sagen: zu Mozart, zu Bruckner. Aber Wagner zieht einen eben in diesen Schlund: Das Gefühl ist einzigartig.“

Sie klingen ein bisschen wie ein Drogendealer.

Christian Thielemann: „Na, ist doch auch so: Wagner als Droge! Es gibt doch immer wieder Situationen, die einen im Leben sehr anregen - oder erregen! Ja, sagen wir ruhig, wenn Sie einmal auf Wagner gepolt sind, wird sie das bis zum Lebensende erregen.“

Und man muss die Dosis nicht steigern, bei ständigem Genuss?

Christian Thielemann: „Vielleicht macht es einen Unterschied, wie viel sie über Wagner, über seine Biografie wissen. Letzten Endes ist der Rausch aber trotzdem wie am ersten Tag, jedes Mal einmalig.“

Wenn man auf die Frühwerke oder die Zeit in Paris anschaut. Hätte es auch sein können, dass aus dem jungen Sachsen nichts wird?

Christian Thielemann: „Ich lese gerade das Wagner-Buch von Dieter Borchmeyer. Meine Güte, ich habe gar nicht gewusst, was er alles für Opernprojekte am Laufen hatte! Den Hang zum Größeren hatte er ja früh, aber das gelang eben nicht immer. Aber das Genialische, das hatte er wohl immer drin, es kam in Paris nur noch nicht so heraus. Die Faust-Ouvertüre - da ist ja eigentlich schon alles da. Oder im "Rienzi". Natürlich merkt man da zwischendrin: Er will, und er kann noch nicht. Das Wichtigste aber ist: Er wollte, und zwar mit allen Fasern seines Körpers.“

Der künstlerische Knoten platzte dann in Dresden, oder?

Christian Thielemann: „Ja, wohl auch durch die Freundschaft mit Carl Maria von Weber und durch seine Beethoven-Rezeption. Diese Ur-Erlebnisse haben ihn geprägt. Aber noch einmal: Ich glaube, er hat alles von Anfang an gehabt. Das wahre Talent hat ein Kind schon, wenn es auf die Welt kommt. Es kommt nur darauf an, ob das gefördert wird. Aus Wagner hätte nur Wagner werden können.“

Unlängst wurde Wagner auf einer Konferenz als „Quentin Tarantino des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet. Was halten Sie davon?

Christian Thielemann: „Wagner hat ja kompositorisch viel probiert. Die deutsche Oper seiner Zeit sah er als gar nicht zukunftsweisend an. Viele Dinge verwarf er - auch das ein Kennzeichen eines großen Künstlers. "Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern" - das hätte von Richard Wagner sein können. Hans Werner Henze hat in seinen späten Jahren auch nicht mehr so begeistert über bestimmte politische Ziele seiner früheren Jahre gesprochen. Man muss seine Ideologie verlassen dürfen. So ein Margot-Honecker-Stil bis zum bitteren Ende, das mag beeindruckend sein - aber in meinen Augen ist solch ein Verhalten zu starr.“

Über den Menschen Richard Wagner kann man geteilter Meinung sein. Kann man die Sicht auf den Komponisten vom Werk trennen?

Christian Thielemann: „Heutige Komponisten trifft man ja zwangsläufig. Und, ja, ich hätte auch Richard Wagner gern getroffen. Durchaus möglich, dass ich gesagt hätte, was für ein Scheusal! Vielleicht hätte ich mich mit ihm auch gut verstanden? Aber nun, wo er tot ist, beispielsweise aufgrund seiner Schriften auf irgendetwas zu schließen, das meine Sicht auf ihn negativ beeinflussen würde - nein, dazu bin ich nicht bereit. Wie war denn Johann Sebastian Bach: dicke Wampe, zu viel Bier? Oder Beethoven, grauenhafte Essmanieren, sein Aussehen nicht gepflegt? Theo Lingen, Heinz Rühmann, die waren doch im privaten Leben ganz Stille. Nein, Sie müssen das Werk von der Person trennen.“

Gilt das auch für Dirigenten?

Christian Thielemann: „Als ich Herbert von Karajan kennenlernte und erfuhr, wie nett, entspannt und liebevoll er war - das entsprach doch gar nicht dem öffentlichen Bild. Ich habe mich einmal mit Anne-Sophie Mutter darüber unterhalten, sie sah das auch so. Eliette von Karajan würde das bestätigen: da gibt es eine, die öffentliche Seite. Und privat ist man ein anderer. Früher waren Dirigenten Ekelpakete und haben trotzdem grandios Musik gemacht. Die Musiker sind mit Karl Böhm, einem ganz Schwierigen, beim Heurigen gewesen. Oder Fritz Reiner, sicher kein einfacher Mensch. Wie soll meine liebevolle Haltung Tieren gegenüber meine Interpretation beeinflussen?“

Wie gehen gerade Sie mit Wagners Werk um? Wie viel Thielemann steckt in diesen Interpretationen?

Christian Thielemann: „Ach, ich würde mir einfach manchmal wünschen, an bestimmten Stellen noch mehr Mut aufzubringen. Ich empfinde mich als gar nicht so konsequent, wie das Publikum das vielleicht meint. Viele Dinge kommen einfach aus Mangel an Erfahrung.“

„Niemand besser als ich“, notierte sich Richard Wagner unter eine Tristan-Skizze. Sich selbst anzuspornen, können Sie das?

Christian Thielemann: Dieses "Immer vor Augen halten: Ich bin der Größte" - das könnte Wagner durchaus ernst gemeint haben! Ich sag es mal so: Wenn du Musik machen willst, und zweifelst: dann lass es. Ich zweifle höchstens an diesem dirigentischen Nomadenleben. Da tut Beschränkung gut.“

Wagner war sicher kein Kostverächter. Um so reiner sind einige seiner Protagonisten. Welche seiner Figuren wären Sie gern?“

Christian Thielemann: „Hans Sachs. Das ist überhaupt Wagners tollste Figur. Ich habe immer den "Tristan" für den Gipfelpunkt gehalten und bin dann doch zu der erstaunlichen Überzeugung gekommen, dass es die "Meistersinger" sind. Vor 20 Jahren hätte ich das weit von mir gewiesen: Wie kann man denn auf eine solch haarsträubende Idee kommen? Aber heute sage ich: Die "Meistersinger" haben eine derartige Versöhnlichkeit.“

Nächstes Jahr feiert Dresden Richard Strauss. Können wir dann das Buch „Mein Leben mit Strauss“ erwarten?

Christian Thielemann: „Ha, könnte man machen! Aber an Strauss' Persönlichkeit kann man sich nicht reiben. Das Buch würde nur halb so dick werden: Um sich an jemandem abzuarbeiten, dafür eignet sich niemand so sehr wie Richard Wagner. Immerhin habe ich das Angebot eines englischen Verlages, bitte meine Memoiren Erster Teil zu schreiben. Ich bin mir aber noch nicht so sicher, ob ich das wirklich machen sollte.“