Der Vers als Filmsequenz
Verfilmte Gedichte erobern das Internet. Sie könnten die Lyrikrezeption revolutionieren.
<strong>Düsseldorf. Eine Spieluhr lärmt, Vater und Kinder quengeln, die Mutter stopft Erdnussflips in sich hinein. Plötzlich stülpt sie sich einen riesigen blauen Ballon über den Kopf und rezitiert das Gedicht "Nach grauen Tagen" von Ingeborg Bachmann. Der Regisseur Ralf Schmerberg verleiht dem Vers "Nur eine einzige Stunde frei sein" damit eine neue Bedeutung. Das Genre Lyrikvideo boomt - dank Internet und YouTube. Annette von Droste-Hülshoffs "Der Knabe im Moor" wird dort zum Gruselfilm, Rainer Maria Rilkes "Panther" zählt in gleich neun Videos die Stäbe seines Käfigs und Edgar Allan Poe rezitiert als Geisteronkel sein Poem "Annabel Lee".
Lyrikvideos bei Youtube werden mehr als 600000 Mal angeklickt
Der Star der "animated poetry" ist der einstige US-Nationaldichter Billy Collins. Die Videos seiner Gedichte wurden jeweils mehr als 600 000 Mal angeklickt. Collins war zunächst skeptisch, als ein Fernsehsender ihn bat, seine Gedichte verfilmen zu dürfen: "Ein Gedicht über einen Baum und als Illustration - wer hätte das gedacht - ein Baum. Aber Animation wirft einen Zauber über das Auge, wie die Stimme über das Ohr", sagt er.
Viktor Kalinke vom "Erata"-Verlag in Leipzig, der Collins in Deutschland herausgibt, könnte sich vorstellen, Lyrikbänden künftig eine DVD beizulegen. Er hofft, über die Internet-Videos auch neue Leser zu werben: "Allein durch das gebundene Buch ließe sich so eine große Reichweite nicht erzielen."
Es mag ketzerisch erscheinen, eine als erhaben geltende Stilform wie die Lyrik mit einem Video bei Youtube zu vergleichen - einer Plattform, die nicht zwischen Kunstwerk und Belanglosigkeit unterscheidet. Tatsächlich aber verbindet beide das Spielerische sowie die exzessive Subjektivität und Selbstentblößung. Gedichte kommen als vergleichsweise kurze und verdichtete Texte zudem der Schnelllebigkeit des Internet entgegen.
FAZ-Lyrikexperte Harald Hartung ist dagegen überzeugt, dass ein Video zwar "Reklame" für die Lyrik machen, aber stets nur den Bruchteil eines Gedichtes einfangen kann: "Heines Vers ,Du bist wie eine Blume’ löst im Kopf jedes Lesers das Bild einer anderen Blume aus. Ein Video dagegen gibt eine Blume vor."
Das gilt laut Boris Nietzsche von der Berliner Literaturwerkstatt, die den "Zebra Poetry Film Award" verleiht, jedoch nur für schlechte Videos: "Sie bebildern das Gedicht lediglich und engen so Assoziationsräume ein. Im besten Fall öffnet das Video jedoch neue." Im Zebra-Gewinnerfilm "Just say no to family values" etwa spricht ein Mann vor der Kulisse eines italienischen Dorfes über die Unnötigkeit von Familienwerten. Im Hintergrund sitzt ein Mütterchen, das den Text des Gedichtes allein durch ihre Anwesenheit ironisch bricht.
Auch der Lyriker Anton G. Leitner kann sich eine Verfilmung seiner Gedichte nur als Variation, nicht als bloße Wiedergabe vorstellen: "Die Bilder, die ich als Verfasser im Kopf habe, wird sowieso niemand genau treffen", sagt er. Obwohl Leitner selbst mit "SMS Lyrik" schon Gedichte in ein anderes Medium übertragen hat, ist ihm "das Papier immer noch lieber als der Bildschirm." Der strahle Kälte aus.
Collins Die Videos zu Billy Collins Gedichten hat der Erata-Verlag auf seiner Website zusammen gestellt: