Eine Epoche dankt ab
Erst mit dem Ende des Krieges endet musikgeschichtlich das romantische 19. Jahrhundert. Die Elektronik beginnt.
Düsseldorf. Das Jahr 1949 markiert nicht nur einen politischen Neuanfang. Denn zum Gründungszeitpunkt der Bundesrepublik sterben zwei große Protagonisten der musikalischen Spätromantik: Hans Pfitzner (1869-1949) und Richard Strauss (1864-1949). Mit ihrem Tod versinken die letzten deutschen Relikte des 19. Jahrhunderts, gleichzeitig sprießt endlich die durch das Dritte Reich hierzulande und in Teilen Europas jahrelang unterdrückte Avantgarde.
Man muss sich das ungefähr so vorstellen: Strauss und Pfitzner entstammen einer Zeit der musikalischen Genies und des romantischen Genie-Kults. Richard Wagner (1813-1883) nahm in Straussens Geburtsjahr die Arbeit am "Siegfried" (nach siebenjähriger Unterbrechung) wieder auf, zum Zeitpunkt von Pfitzners Geburt arbeitet er an der "Götterdämmerung". In der Familie Strauss gehören Mozart und Wagner zu den Hausgöttern.
Überhaupt steht das musikalische Fin de Siècle im Banne Wagners, an dessen neuartiger Tristan-Harmonik kaum ein Komponist herumzukommen scheint. In einem solchen Fluidum wachsen nun die jungen Musiker Hans Pfitzner und Richard Strauss auf. Als sie hoch betagt sterben, haben sie sich in ästhetischer Hinsicht kaum verändert, aber die Welt um sie herum ist eine völlig andere geworden.
Nun zeigen Strauss und Pfitzner während des Nationalsozialismus keine auffallende Abneigung gegen die politische Führung. In der Ablehnung atonaler Musik der etwas jüngeren Generation besteht zwischen den älteren Herren und dem Regime sogar ein gewisser Konsens. Mit dem Untergang des Dritten Reichs bricht aber der deutsche Staudamm der Moderne, und die beiden letzten hiesigen Romantiker finden sich weitgehend isoliert vor.
Eine ästhetische Kehrtwendung scheint in einem Alter von etwa 80 Jahren undenkbar. Der Abschied von der großen Bühne geschieht ohne Sentimentalität, ja eher mit ironischer Abgeklärtheit. Als man Strauss fragt, was denn nun nach den "Vier letzten Liedern" komme, meint der alte Bayer ungerührt: "Na, sterben halt." Und Pfitzner spottet gegenüber seinem Arzt, der infolge einer unheilbaren Krankheit einen Spasmus diagnostiziert: "Ja, Spaß muss sein."
Nach dem Tod dieser beiden Komponisten entstehen in der jungen Bundesrepublik neuartige Werke großer Komponisten des 20. Jahrhunderts wie Paul Hindemith und später Hans Werner Henze, Karlheinz Stockhausen und Bernd Alois Zimmermann. Es beginnt eine Zeit der Verweigerung sinnlichen Ausdrucks und jeglichen Gefühls. Kein Wunder, dass dabei keine wirklichen Publikums-Renner entstehen konnten. Das zeitgenössische Konzert-Repertoire konzentriert sich weiterhin auf die Musik des 19. Jahrhunderts. Die Avantgarde fristet währenddessen ein exklusives Dasein im vergleichsweise kleinen Kreise von Kennern. Die Kluft zwischen neuer "Klassik" und "Popularmusik" wird größer als jemals zuvor in der Musikgeschichte.
Der Nachruhm der beiden letzten Romantiker verteilt sich unterdessen ziemlich ungleich. Die glanzvoll instrumentierte Musik von Strauss erklingt regelmäßig allüberall, bei den Salzburger Festspielen sowieso. Pfitzners Tonsprache kommt introvertierter und spröder daher, sie erschließt sich langsamer. Mithin steht selbst Pfitzners bedeutendstes Werk, die genial komponierte und von Pfitzner selbst getextete Oper "Palestrina" über die Musikreform zur Zeit des gleichnamigen Renaissance-Komponisten Palestrina, nur selten auf dem Spielplan.
Ein noch dunkleres Schattendasein fristet die Eichendorff-Kantate "Von deutscher Seele". Womöglich liegt das am tümelnden Titel und der erschwerenden Tatsache, dass Pfitzner aufgrund einiger Indizien als Antisemit und Nazifreund gilt. Neue biografische Forschungen kommen hingegen zu entlastenden Ergebnissen. Immerhin lehnte Pfitzner den Auftrag ab, eine Hymne auf Hitler zu komponieren.
Mit erhobenem Zeigefinger wird zuweilen auch auf Strauss’ Regime-Verstrickungen hingewiesen. Er war vorübergehend Präsident der Reichsmusikkammer. Zur Wahrheit gehört aber ebenfalls, dass er sich darüber nicht sehr froh zeigte und man ihn aufgrund seiner (überwachten) Brief-Kontakte mit dem jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig schon bald wieder des Amtes enthob.
Die Ästhetik Strauss’ und Pfitzners war bereits im Dritten Reich, in dem Unterhaltungsmusik höher im Kurs stand, ein Auslaufmodell. In der neu gegründeten Bundesrepublik war sie es wieder - nur unter anderen Vorzeichen.