Ganz unten am Fluss
The Notwist haben sich nach dem überraschenden Erfolg von „Neon Golden“ sechs Jahre Zeit gelassen – und nun wieder einen großen Wurf gelandet.
Düsseldorf. Geregnet soll es haben, als der Anruf kam. Und der Manager der Dixie-Band, in der Micha und Markus Acher auch heute noch hin und wieder gemeinsam mit ihrem Vater vor diversen Einkaufszentren spielen, muss an diesem Tag ein ziemlicher Stinkstiefel gewesen sein. Ach ja, und die Tochter von Micha Acher brauchte dringend mal wieder ein Paar Schuhe.
Für die meisten wäre also die Anfrage, die just in diesem Moment per Handy kam, ein Segen gewesen - stimmungsmäßig, finanziell, überhaupt.
Micha Acher aber lehnte die 750 000 Euro, die ein Mitarbeiter von Vodafone ihm an diesem Samstagmorgen bot, ab. Einfach so. Die Musik von The Notwist passe nicht zu Werbung, sagte der heute 37-Jährige knapp. Dann spielte er Dixie, trotzte dem Regen - und irgendwann ging’s Schuhe kaufen.
So weit die Legende, der man gerne glaubt. Die beiden Acher-Brüder neigen nicht zur Übertreibung, sind eher das, was man so schön "geerdet" nennt. Wahrscheinlich hätte es ihnen noch nicht einmal jemand übel genommen, wenn sie zugesagt hätten.
Die Dandy Warhols, Air, Muse, Jet - die Liste der Indie-Ikonen, die einen ihrer Songs als Soundtrack für den Konsum zur Verfügung stellten, ist lang und die Gesellschaft, in der The Notwist sich bewegt hätten, demnach nicht schlecht. Die Gesellschaft, in der sie sich aber nun dank ihrer Weigerung bewegen, ist noch einen Hauch besser. Denn auch die White Stripes lehnten ein Angebot von selber Stelle ab.
Das Objekt der Begierde mit Namen "One With The Freaks", der siebte Track ihres letzten Albums "Neon Golden", hätte also einer dieser Songs werden können, die man nicht mehr aus seinem Kopf rauskriegt, selbst wenn man es will.
So ist er das geblieben, was er war: Sieben Zehntel des zurechtgetüftelten Meisterwerkes, das der deutschen Plattenkritik 2002 den Jahrespreis wert war. Vorher hatte der Longplayer die deutschen Top Ten erreicht, unerwartet sicherlich - aber irgendwie auch wieder nicht. Denn The Notwist hatten in Sachen Lobbyarbeit ganze Arbeit geleistet.
Seit ihre sanfte Indie-Melancholie von der gitarrenlastigen Schredderigkeit ihrer frühen Alben zur elektronisch verpackten Eleganz fand, die sie dem Bandbeitritt von Martin Gretschmann (Console) verdanken, waren The Notwist bienenfleißig.
Sie steuerten stilbildende Beiträge zu den Soundtracks der unter Jugendlichen und Junggebliebenen erfolgreichen Kinofilme "Absolute Giganten" und "Crazy" bei, was ihnen über ihr Fanlager (Hedonisten-Sonderlinge und Sound-Puristen) hinaus Zugang zur sogenannten breiten Masse verschaffte. Dass "Neon Golden" trotz seiner abgehobenen Kunstbeflissenheit zu einem Konsensalbum wurde, haben sie also nicht weniger zu verdanken als ehrlicher, harter Arbeit.
Ein Nachfolger hat es da gewohnheitsmäßig schwer: Die eingefleischten Fans sind sensibilisiert und neigen zu überdehnter Kritik, die neu erschlossenen Hobbyhörer wollen sich wieder finden, ohne überanstrengt zu werden. "The Devil, You + Me" scheint da wie aus dem Lehrbuch zusammengebaut.
The Notwist, seit dem Ausstieg von Gründungsmitglied Mecki Messerschmidt wieder auf Trio-Größe geschrumpft, suhlen sich in glöckchenverhangenen Daseinsfragen, lassen die lieblichen Streicher die Gehörgänge genauso umschmeicheln wie die teilweise monströsen Snythie-Gebilde von Gretschmann sie zu verstören wissen.
Nichts will sich anpassen, aber alles ist im Fluss. Und wenn irgendwann in diesem Sommer über der einen oder anderen hartnäckigen Grillgesellschaft am Ufer eines Sees die Sonne langsam aufgeht, starren die übernächtigten Gestalten auf das dunkle Wasser vor ihnen und empfinden Songs wie "Good Lies" oder "Sleep" wie Balsam. Akustische Alternativheilkunde!