Kettcar: Es ist Zeit für den Zorn der Gerechten
Auch schwer Verdauliches muss sein. Kettcar machen daraus sogar ein ganzes Album. „Sylt“ nennen sie ihr eindringliches Plädoyer gegen die schleichende Entmenschlichung.
Hamburg. Marcus Wiebusch ist nervös. Mal lächelt der Kettcar-Frontmann, im nächsten Moment denkt er angestrengt nach, knetet dabei seine Hände ineinander und braucht für jeden Satz drei Anläufe, bis ihm gefallen will, was er sagt.
Das Gespräch beginnt er mit einer Frage: Wie es denn angekommen sei, das Album. Gut, ist die Antwort. Das beruhigt ihn, kurz lacht er, macht auf seiner mentalen Checkliste einen Haken in der Pro-Spalte, verfällt danach aber wieder in leicht fahrige Manierismen.
Herzblut hängt an seinem jüngsten Werk, das sieht man Wiebusch an, vor allem aber hört man es, wenn man in die ungemütliche Tiefwetterlage eintaucht, die der 39-Jährige und sein Co-Autor Reimer Bustorff mit ihren Songs für "Sylt" entworfen haben. "Wir wollten zeigen, dass wir mit den momentanen neoliberalen Jubelstürmen nicht einverstanden sind." Wiebuschs Blick ist starr, seine Stimme zittert.
Es sind keine bloßen Lippenbekenntnisse, erst recht kein kalkuliertes Wichtigtuertum. Songs wie "Fake for Real" oder "Kein Außen mehr" zeigen: Hier war jemand verdammt wütend. Der Zorn der Gerechten, jetzt platzt er wieder in die Popmusik, unverstellt und widerborstig.
Dass es allerdings ausgerechnet Kettcar sein würden, die ihre Texte zum aufgewühlten Politdiskurs umfunktionieren würden, damit hatte wohl niemand gerechnet.
Seit die fünf Hamburger vor drei Jahren ein Album ablieferten, das man ruhigen Gewissens als musikalischen Bausparvertrag bezeichnen kann, galten sie als... "Ich weiß, Kumpelrocker", nimmt Wiebusch den Gedanken auf. Er wirkt dabei gelassen. Wahrscheinlich, weil er weiß, dass sein aktueller Versuch, mit der wohlfeilen Alltagslyrik zu brechen, geglückt ist. Trotzdem schiebt er nach: "Eine dieser vielen Wellness-Bands, bei denen immer alles gut wird, das waren wir einfach nicht."
Nein, das waren sie nicht. Dafür waren die Bilder, die Wiebusch mit nur wenigen Worten im Kopf des Zuhörers zu erzeugen vermag, schon immer zu plastisch. Trotzdem sind Wut, Betroffenheit und die Suche nach einer neuen Political Correctness im Themenreservoir des Quintetts weitgehend unbesetzt geblieben.
Warum also ausgerechnet jetzt? "Ich war damals noch nicht so weit. Jetzt schon!" Also war der politische Überbau des neuen Albums nicht nur ein spontaner Reflex? "Nein, ich setze mich nicht mal eben auf die Bettkante, spiele ein bisschen herum, und plötzlich kommen solche Songs dabei raus."
Was war dann der konkrete Anlass? Das ist Wiebuschs Stichwort: "Es sind die scheinbar kleinen Geschichten von Mittzwanzigern, die am Burnout-Syndrom leiden, von der allgegenwärtigen Angst, die Arbeit zu verlieren, von der Tatsache, dass es viele Verlierer gibt, obwohl wir doch in angeblich so tollen Zeiten leben."
Wiebusch holt tief Luft. Hat er das selbst erlebt, total ausgebrannt zu sein? "Ja, vor zwei Jahren." Woran lag’s? "Die Anforderungen an mich waren zu hoch." Handelte es sich dabei um ein hausgemachtes Problem, oder kam der Druck von außen? "Sowohl als auch, aber vor allem von außen."
Wiebusch ist also leidgeprüft. Seine Songs sind trotzdem nicht nur bloße Erfahrungsberichte, sondern geschickt aufgebaute Mini-Dramen. Wenn er in "Am Tisch" von zwei Freunden erzählt, der eine erfolgreich, der andere gestrauchelt und beide voneinander durch eine gesellschaftliche Kluft entfremdet, dann ist das kein geschmäcklerischer Sozialkitsch, sondern ein plausibles Fallbeispiel für die fortschreitende Entmenschlichung eines scheinbar zufällig entstandenen Gemeinschaftssystems, in dem die einen auf die völlige Aufgabebereitschaft der anderen setzen, dafür aber immer weniger Sicherheiten bieten wollen. Bleibt dabei jemand auf der Strecke, war’s die Globalisierung.
Die muss sowieso für jede Ungerechtigkeit als Sündenbock herhalten, die eigentlich von Menschen gemacht ist. War’s schwer, das alles in Texte zu kanalisieren? "Die Schwierigkeit war, dass das Ergebnis immer noch Pop sein soll." Er blinzelt unsicher. Braucht er nicht, hat beides geklappt: das mit dem Pop und das mit der Aussage.