Hast Du Töne? Ja, reichlich!
Seit den 80er-Jahren sammelt Richard Ortmann die Geräusche des Ruhrgebiets. So bleibt eine Industrieregion hörbar, auch wenn der Strukturwandel abgeschlossen ist.
Düsseldorf. Unser Gedächtnis arbeitet hauptsächlich mit Bildern. Aus vergangenen Tagen gibt es Fotos, die in unseren Köpfen gespeichert sind. Aber Töne sind selten, wenn es ums Erinnern geht.
Der Künstler und Saxophonist Richard Ortmann fand das schon immer befremdlich. In den 80er-Jahren kam ihm die Idee, das zu ändern, seine Geschichte des Ruhrgebiets selbst zu schreiben, ein Ton-Gedächtnis zu schaffen. Seitdem pfeift der gebürtige Herner auf Schnappschüsse oder Filmchen. Er interessiert sich für den Klang.
Für ein Hörspiel nahm Ortmann damals die Geräusche einer Hinterhof-Fabrik auf. Allerdings war er mit der Qualität seines Mitschnitts nicht zufrieden und wollte ein paar Wochen später neue Töne sammeln. Doch die Fabrik war verschwunden. Ein Alarm-Signal für sein Gehör - und sein Gedächtnis.
"Von diesem Zeitpunkt an habe ich all’ die Geräusche aufgenommen, von denen ich wusste, dass ich sie bald nicht mehr hören werde. Zechen, Stahlwerke, die alten Straßenbahnen. Das alles wird hier wegbrechen, unhörbar werden." Er möchte retten, was zu retten ist. Alles speichern. Zumindest auf Tonband.
In seinem Haus im Dortmunder Osten ist der Dachboden prall gefüllt mit Geräten und Aufzeichnungen. Mikrofone, Tonbänder, CDs, Instrumente und diverse Technik sind in allen Ecken auf dem Speicher gestapelt. Wer Ortmanns Sammlung komplett hören wollte, müsste viel Zeit haben. Mehr als zwei Monate würde es dauern, allem zu lauschen, was der gebürtige Herner mittlerweile an Aufzeichnungen besitzt. Bei der Suche nach Hörbeispielen kann er selbst schon mal den Überblick verlieren.
Seit den 80ern hatte der 53-Jährige so ziemlich alles, was das industriegeprägte Ruhrgebiet zum Klingen bringt, vor dem Mikrofon. Singende Kumpel, Zechensirenen, der Abstieg Untertage, stampfende Walzen, Hochöfen, eine Kohlenwäscherei mit 90 Dezibel. "Das ist fast so laut wie ein Presslufthammer", erzählt Ortmann.
Ein Lieblingsgeräusch hat er nicht, aber immer wieder Vorlieben. "Ich steh’ grad auf Explosionen. Es explodiert viel im Ruhrgebiet, die letzten Reste werden weggesprengt. Immer, wenn ein Kühlturm plattgemacht wird, Schornsteine oder ein Hochofen, bin ich da." Am Ende dieser Aufnahmen soll eine Collage stehen: die wahrscheinlich längste Sprengung der Welt.
Mittlerweile kann er von seinem Sammeltrieb ganz gut leben. Immer wieder verarbeitet er die Klänge des Potts in seinen eigenen Kompositionen. Oder er verkauft die Töne an Firmen und Museen. "Der Strukturwandel ist schon sehr weit fortgeschritten. Jetzt merken auf einmal alle, dass es von früher kaum noch Töne gibt." Im Jahr 2010, wenn Essen und das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt sein werden, wird das Alte noch einmal ganz modern sein, stehen Ortmanns Töne sehr hoch im Kurs.
Vollständig ist seine Sammlung nicht. Im Stahlwerk beispielsweise war immer ein Sicherheitsbeamter dabei, oft bekam Ortmann zu hören: "Bis hierhin und nicht weiter". Besser für seine Gesundheit, schlecht für die Ton-Sammlung. Auch der Klang der Förderräder, die sich ganz oben auf einem Zechenturm befinden, fehlt noch im Archiv. "Ich habe schon oft angefragt, aber so ein Ausflug ist denen wohl zu gefährlich."
Das Wort "Hobby" hört Ortmann nicht gerne. Der gelernte Industriekaufmann weiß, dass Kunst immer auch Kommerz ist. Schon allein deshalb sei seine Sammlung kein Selbstzweck. Und ihr Ende außerdem absehbar. "Mit der Kulturhauptstadt wird es einen Einschnitt geben, dann ist die Beschäftigung mit dem alten Ruhrgebiet vorbei. Der Pott wird weiter klingen, aber irgendwann wird es sich anhören wie in London, Paris oder New York." Dann könne er auch mal sagen: "So, jetzt war’s das."
Die technische Entwicklung verheißt für seine Sammlung im Übrigen nichts Gutes. Die neuen Chip-Fabriken etwa hat Ortmann schon besucht und Ton-Aufnahmen gemacht. Von Roboter-Armen, Lasern und Entstaubungsmaschinen. "Das ist nur noch feines Klicker-Klacker, keiner brüllt mehr ’rum."
Ein Projekt, mit dem Ortmann dagegen schon länger liebäugelt, sind Call-Center. Der Trend der Straße ist hier komprimiert. "Denn auch die typische Sprache des Ruhrgebiets verändert sich, wird austauschbar. ’Dat’ und ’Wat’ verschwinden. Das liegt an der Jugend, den Universitäten und den Migranten im Pott." In Bayern etwa sei das noch anders. Man muss nur das Bayerische Fernsehen schauen, um zu hören, was Richard Ortmann meint.