Tocotronic: Endlich wieder Texte wie Schlagzeilen

Klar, verkopft sind Tocotronic immer noch. Für „Schall und Wahn“ haben sie allerdings die textliche Klarheit ihrer Anfänge wiederentdeckt.

Tocotronic zu vergleichen mit, sagen wir, den Toten Hosen, hieße zwar, Äpfel und Birnen gemeinsam zu begutachten. Aber interessant wäre es allemal.

Zur Erinnerung: Die Toten Hosen sind jene deutsche Band, die wie keine andere Stadien füllt, CDs und DVDs millionenfach verkauft, mit einer Doku-Soap gar bei MTV landete - und sich allzu gerne in diesem Erfolg sonnt.

Tocotronic dagegen spielen in den kleinen Hallen. Sie hatten noch nie eine Nummer1 in den Charts. Dem Großteil der "hippen" Musikmedien zeigen sie die kalte Schulter. Und doch sind die Hamburger für sehr viele Menschen die wahre wichtigste oder gar beste Band ("Rolling Stone" im Januar 2010) des Landes - obwohl sie genau das gar nicht sein wollen.

Das ursprüngliche Trio um Dirk von Lowtzow (Gesang, Gitarre), Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug), das seit 2004 mit Rick McPhail (Gitarre) als Quartett spielt, entfachte seit der Bandgründung vor 18 Jahren einen ganz eigenen Kult. Einen, der sich verselbstständigte und anders war als andere.

Tocotronics schlagzeilenartige Songtexte der ersten vier Alben "Digital ist besser", "Nach der verlorenen Zeit", "Wir kommen um uns zu beschweren" und "Es ist egal, aber" (1995 bis 1997) rüttelten nämlich eine ganze Generation von Musikfans wach, die eher dem klassischen Bildungsbürgertum zuzurechnen oder auf dem Weg in selbiges waren: die Studenten und Intellektuellen. Wer sich Mitte der 90er an den Hochschulen umschaute, der blickte vor allem auf junge Menschen mit Seitenscheitel, Trainingsjacken und Cordhosen, die im Dunstkreis von Hörsälen, Kneipen und WGs über Songs wie "Michael Ende, du hast mein Leben zerstört", "Die Welt kann mich nicht mehr verstehen" oder "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein" diskutierten.

Und weil sich durch Tocotronics Erfolg rund um das Hamburger Label "L’age D’or" auch Bands wie Blumfeld oder Die Sterne mit einem ähnlichen künstlerischen Ansatz ins Bewusstsein dieser Menschen spielten, war schnell - und natürlich in Anlehnung an die Hochschullehre - der Begriff der "Hamburger Schule" geboren: Musik nicht nur zum Hören, sondern zum Nachdenken. Und vor allem: Musik mit einem offenen Bekenntnis zur Kunst.

Am meisten irritiert über diesen Kult zeigte sich die seit jeher gegen jeden Trend opponierende und politisch links aktive Band selbst - und fand ihren eigenen Weg des Protestes: Zunächst lehnten Tocotronic vor laufender Kamera den Pop-Preis "Comet" ab, der ihnen in der Kategorie "Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben" überreicht werden sollte. Und mit dem Album "Tocotronic" (2002) warfen sie auch ihren Schrammel-Sound zwischen Punk und Grunge über Bord. Die Lieder wurden langsamer. Nur die griffigen Slogans, die ihre Songs textlich schmücken, überlebten und sind auch auf dem gestern veröffentlichten neunten Studioalbum "Schall und Wahn" wiederzufinden.

Kunst? Intellektuelle Texte? Nein. Die Band würde sich eben für spleenige und exzentrische Texte begeistern und sich dabei in einem definierten Genre, dem Rock, bewegen, sagte Dirk von Lowtzow kürzlich im Interview mit der Musikzeitschrift "Rolling Stone", während er anderswo ("Musikexpress") betonte, dass man sich selbst nicht allzu ernst nehme: "Bei uns gibt es eine totale Lust an der Albernheit." Allerdings werde dieser Humor - man nehme nur die Zeile "Ich bin der Graf von Monte Schizo. Und ich singe diesen Hit so" vom neuen Album - eben nicht immer als pure Albernheit erkannt.

Tocotronic sind vielmehr noch immer das Paradebeispiel für Verkopftheit, obwohl sie nach eigener Aussage doch nur vor den Kopf stoßen wollen, um eben nicht (wie zum Beispiel die Toten Hosen) in einer Schublade zu landen. Und wer diesen alles andere als elitären und bildungsbürgerlichen Sinn für Realismus erkennt, der erkennt auch, warum gerade Tocotronic (und eben nicht die Toten Hosen) so viele jüngere deutsche Bands mit guten Texten (Wir sind Helden, Kettcar, Tomte) prägten. Warum sie die ewigen Lieblinge der Musikkritiker sind. Oder warum sie alle der Auflösung anheim gefallenen alten Weggefährten überlebten und auch auf der neuen Platte so zeitlos klingen wie damals, als diese Sache mit den Studenten losging.