Zwischen Genie und Wahnsinn: Faith no more beim Area4

Lüdinghausen. Langsam leert sich der Platz vor der großen Bühne auf dem Flughafen Borkenberge in Lüdinghausen. Die Mienen der Besucher sprechen für sich: Zufriedene, glückliche Gesichter, die alle gerade eines erlebt haben, was ihnen niemand mehr nehmen kann.

Den Abschluss eines großartigen und friedlichen Festivals, das von mehr als 20 000 Rockfans besucht wurde. Gerade sind die letzten Töne von Faith no more’s "We care a lot" verklungen - und schon werden Pläne für das nächste Jahr gemacht. Denn die Tickets für das Area4 2010 gibt es schon im Vorverkauf.

Dass es solch ein großartiges Fest werden würde, ahnen die Menschen, die am Freitagabend im Stau stehen, nicht. Während The Offspring gerade ihre Hits wie "Self Esteem" und "Pretty Fly" spielen, reihen sich noch viele der Fans in den Stau ein. Zwischen Dülmen und Lüdinghausen geht gar nichts mehr, Parkplätze sind Mangelware. Schnell wird noch ein weiteres Feld planiert und zum Parkplatz umfunktioniert, damit der Verkehr wieder rollen kann. Am Festivalgelände angekommen, folgt die nächste Hiobsbotschaft - die Zeltplätze sind alle belegt. Und doch finden die Nachzügler, die großartige Auftritte von Jet, den Deftones, den Mad Caddies und Turbostaat verpasst haben, alle noch einen Schlafplatz. Die Ordner sind wahre Engel - sie helfen bei der Suche und packen auch selbst mit an.

Pünktlich zu den Toten Hosen sind aber die meisten endlich angekommen. Der Zeltplatz ist wie ausgestorben, als die Düsseldorfer endlich auf die Bühne kommen. Dafür ist es auf dem Infield, dem Festivalgelände, rappelvoll. Um Punkt 23.30 Uhr beginnen die Fans "Steh auf" zu singen, das Intro von Blitzkrieg-Bob übertönt schließlich die Massen. Es reihen sich Hits an Hits und schon bei "Opel-Gang" ist allen klar, dass vor der Bühne heftigst gepogt wird. Mitten im Song muss Campino die Show unterbrechen, damit alle, die umgefallen sind, wieder auf die Beine kommen können. Nahtlos setzt er dann zur zweiten Strophe an und lässt sich dann auch 95 Minuten lang nicht mehr unterbrechen.

Besonders Tim dürfte dieses Konzert, bei dem kein Hit fehlt, lange im Gedächnis bleiben. Campino erzählt, dass vor dem Konzert ein Zettelchen über den Zaun zum Backstage -Bereich geflogen ist, auf dem die Bitte stand, Tim zum Geburtstag zu gratulieren. Das macht er dann auch - zwar eine Minute zu früh - aber was soll's?! Dass der Graben zwischen Düsseldorf und Köln doch nicht so breit ist, demonstrierte Campino schließlich, als er einen jungen Mann im 1.FC-Köln-Trikot auf die Bühne holte und ihn "Paradies" mitsingen ließ. Mit "You’ll never walk alone" verabschiedeten sich die Hosen schließlich von denen, die schon auf dem Weg zurück zu ihrem Auto, ihrem Zelt oder zum Disco-Hangar sind.

Der zweite Tag beginnt beschaulicher, als der erste geendet hat. Viele der Festivalbesucher relaxen vor ihren Zelten, hocken in mitgebrachten Planschbecken, um sich abzukühlen oder stillen ihren Hunger mit selbst gegrillten Würstchen. Und auch gegen den Durst wird heftig angetrunken - Bier gibt es diesmal nicht nur an den unzähligen Verkaufsständen einer Bremer Brauerei, sondern auch für einen Euro gekühlt in einem Supermarkt, der bestens für den Ansturm des Partyvolkes gerüstet ist.

Auf der Bühne machen sich derweil Everlaunch und Callejon bereit, um den musikalischen Teil des Festivaltages einzuläuten. Sehr ruhig bleibt es auch noch bei der Band Rival Schools, die nach einer langen Pause zeigte, dass sie nichts an Kraft verloren hat. Deutlich frenetischer werden die Broilers gefeiert, die wie auch die Hosen, aus Düsseldorf kommen. So haben sie ein echtes Heimspiel - die DTH hatten ihnen am Abend zuvor den Weg geebnet. Deutsche Oi!-Punk-Texte lassen die Massen pogen und springen, bis die ganze Menschenmenge in eine dicke Staubwolke gehüllt ist. The Get Up Kids, die als nächstes dran sind, haben dann auch die Hymne für das Festival im Gepäck "Beer for Breakfast", Bier zum Frühstück - genauso wird es für viele der Besucher ausgesehen haben. Thursday plätschern am Publikum vorbei, nur bei "Resuscitation of A Dead Man" wachen einige aus ihrer Lethargie auf, weil Tim McIlrath von Rise Against die Bühne stürmt und mit dem Thursday-Sänger gemeinsam singt.

Für die Unterhaltung in den Umbau-Pausen sorgen nun auch die Damen und Herren vom Rockpalast. Immer wieder zoomen sie sich mit ihren Kameras an die Gesichter der Besucher heran und machen sie für einige Sekunden berühmt. Auffällig sind besonders die vielen Menschen, die sich einen Walross-Bart angeklebt haben. Klar, sie alle warteten schon gespannt auf die "Eagles of Death Metal", deren Sänger Jesse "The Devil" Hughes auch einen solchen Bart trägt. Für die Area4-Besucher ist die Band, die vom Sänger und Queens-of-the-stone-age-Mastermind Josh Homme gegründet wurde, eine alte Bekannte. Bereits vor zwei Jahren standen die Eagles in Lüdinghausen auf der Bühne. Wer nun einen Heavy Metal Gig erwartete, hat aufs falsche Pferd gesetzt. Die Eagles of Death Metal fanden den Namen einfach zu genial - auch wenn sie eher eine Mischung aus Boogie, Rock und Blues spielen. Verrückt - aber mit Sicherheit die Band mit dem höchsten Spaßfaktor auf dem Festival.

Danach stürmt die Alternative-Band AFI (A fire inside) die Bühne. Sie haben nicht nur wundervolle Melodien, sondern auch eine imposante Lichtshow im Gepäck. Schade nur, dass sie 25 Minuten vor Ablauf ihrer Bühnenzeit schon wieder den Platz räumen. Für Rise Against - auf die sich an diesem Samstag wohl die Meisten freuen. Tim McIlrath hatte ja schon am Nachmittag einen kleinen Gastauftritt bei dem Gig von Thursday. Und trotzdem kann er von den Rockfans auf dem Festival nicht genug bekommen - gleich dreimal kommt er mit seiner Band wieder für eine Zugabe auf die Bühne. Zuvor hatte die Band, die nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch mit ihrer Botschaft ein Zeichen setzen will, ihre Hits wie "Ready to fall" oder "Hero of war" abgefeuert. Und alle Zweifel der Kritiker zerstreut, die sich fragten, warum ausgerechnet Rise Against die Headliner-Position am Festival-Samstag einnehmen.

Sonntagmorgen, auf dem Weg ins Frühstückszelt, bietet das Camping-Gelände wieder einen neuen Anblick. Der Müll hat sich quasi über Nacht verdoppelt, dafür sind einige Zelte verschwunden. Wahrscheinlich schon abgebaut und nicht über Nacht in Flammen aufgegangen. Die verbliebenen Besucher lassen den Tag ruhig angehen: Es wird ein wenig Football und Frisbee gespielt. Und den Kater gepflegt. Die Nacht war unruhig, aber laut Security auch nicht zu unruhig. Sprich: Keine Ausschreitungen, nur ein paar Betrunkene mit Orientierungsschwierigkeiten.

Auf dem Festivalgelände beginnt der Tag noch ruhiger als der Samstag. So spielen der Bombay Bicycle Club, Alberta Cross und die Baddies vor einem fast leeren Zuschauerraum.Kurzzeitig regt sich die Befürchtung, dass auch Pantéon Rococó vor einer sehr dürftigen Kulisse spielen würden. Aber vielleicht ist es gerade die Mischung aus Rock, Ska, Salsa, Cumbia, Mariachi, Reggae, Punk und Mestizo-Musik, die von den Festivalbesuchern benötigt wird, um Aufzuwachen und den Kreislauf in Schwung zu bringen. Binnen Minuten füllt sich der Zuschauerraum. Hände werden Richtung Himmel und Bühne ausgestreckt, die müden Glieder im Takt in Bewegung gebracht. Eine Polonaise und Massen-Bockspringen sind zu beobachten - der anfänglichen Müdigkeit folgt plötzlich eine riesige Party. Auch wenn den ein oder anderen, der auf die nachfolgende Band Life of Agony wartete, die gute Laune latent aggressiv macht.

Seine hübschen Augen verbirgt er hinter einer riesigen, braunen Grace-Kelly-Sonnenbrille: Keith Caputo von Life of Agony. Anfänglich noch etwas desorientiert, geht es dann aber doch noch richtig los. Und zwar im flotten Galopp durch die musikalische Bandgeschichte der Jahre 1989 bis 1999. So mancher Festivalbesucher, der schon eine 3 vorne stehen hat, hat große Mühe bei den Hits wie "Weeds" still zu stehen. Zu groß war die Vorfreude auf dieses Konzert der Crossover-Band, die sich 1999 trennte und vor sechs Jahren wieder zusammenfand.

Den größten deutschen Circle-Pit fordern schließlich die Jungs von Anti-Flag - passend zu ihrer punkigen Musik. Kettcar, die danach die Bühne betreten, fühlen sich etwas fehl am Platze. "Nach dem Konzert von Anti-Flag wirken wir sicherlich auf euch wie eine Dichterlesung." Vielleicht nicht das Schlechteste, um vor dem Farin Urlaub Racing Team noch einmal zu Atem zu kommen. 20 Minuten zu früh fällt schließlich der Vorhang - Trommler geben den Rythmus vor. Mitten unter ihnen: Farin. Die Fotografen im Presse-Bereich springen wie von der Tarantel gestochen auf und rennen in Richtung Fotograben. Schließlich dürfen nur die ersten drei Lieder geknipst werden. Zum letzten Mal tritt das Racing Team im Rahmen der Krachgarten-Tour zusammen auf. Abschied wird gefeiert, aber kein wehmütiger. Dabei senkt sich die Nacht immer weiter über das Festivalgelände - die letzte Nacht des Area4 2009.

Und wer könnte diese herrliche Nacht besser beschließen, als die Crossover-Legenden von Faith no more? Zwar leert sich der Platz nach der Zugabe von Farin Urlaub zusehends - doch es bleiben immer noch imposant viele Menschen übrig, die schon lange auf das warten, was gleich passieren wird. 1998 hatte sich die Band aufgelöst, die meisten ihrer Fans hatten nicht damit gerechnet die Musiker um Mike Patton noch einmal live erleben zu dürfen. Und dann kommen sie: Faith no more - in Anzügen und ein wenig angegraut. Dass dies jedoch nicht für ihre musikalische Leistung gilt, zeigen sie in den folgenden 90 Minuten. Sanft starten sie mit einer Coverversion von Reunited, in der Patton zeigt, warum er auch durchaus auf Jazz-Festivals eingeladen werden kann. Neues Material haben Faith no more zwar nicht im Gepäck, vielmehr spielen sie sich lieber noch einmal durch ihre Hits.

"Be aggressive" poltert den Konzertbesuchern um die Ohren, gefolgt von "Caffeine", "Evidence" und "Last Cup of Sorrow". Patton spurtet über die Bühne, gestikuliert wild, stopft sich das Mikrofon in den Mund und lässt sich von den Ordnern in den Fotograben heben, um mit einigen Fans abzuklatschen. Schließlich findet er einen Euro auf der Bühne. "How would you feel, if someone threw one Euro on you", fragte Patton (Wie würdet ihr euch fühlen, wenn jemand einen Euro zu euch auf die Bühne schmeißen würde?). "Pretty good" (Sehr, sehr gut) lautet schließlich seine Antwort. "Easy" und "I started a joke" lassen die Besucher schließlich noch einmal verschnaufen, bis es mit "King for a day" und "We care a lot" in die Zielgerade geht.