„Working Class“ feiert im Kleinen Haus Uraufführung Eine Inszenierung über Arbeit und Klasse

Düsseldorf · Acht Menschen erzählen von ihren prekären Arbeitsbedingungen, Gewerkschaftskämpfen und Jobwechseln und fragen sich: Wie viel ist meine Arbeit wert?

Working Class — eine Inszenierung über Arbeit und Klasse

Foto: Melanie Zanin

Ihr Vater kam spät von der Arbeit nach Hause, die Mutter hatte mehrere Jobs gleichzeitig, war ein Arbeitstier. Geldsorgen hatten sie immer und die Kinder mussten alle auf die Hauptschule. Zum Arbeiterdasein verdammt schienen die meisten der jungen Frauen und Männer, die jetzt im Düsseldorfer Schauspielhaus über ihr Leben erzählen – sie spielen Szenen vor einer Lammellenwand, manchmal mit Augenzwinkern, sie tanzen und singen. Zunächst kramen sie liebevoll in Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre Eltern, die sie heute bewundern: Einige kamen als Gastarbeiter während der 1960er/70er Jahren in die Bundesrepublik, verdingen sich seitdem überwiegend als Supermarkt-Kassiererin, Putzfrau, Altenpfleger oder Lagerarbeiterin - Knochenjobs, die kaum ein Theaterabonnent im Zuschauerraum machen würde. So meint eine junge Frau: „Grüßen Sie Ihre polnische Putzfrau zuhause!“

Die Kinder der Migranten lande(te)n meist in ähnlichen ‚Beschäftigungsverhältnissen‘, in der Soziologie als ‚prekär‘ bezeichnet, sagen sie. Schuften, sich abrackern, dafür knapp den Mindestlohn kassieren und kaum, wenn dann nur geringe, Anerkennung. Doch im Laufe der 80-Minuten-Performance „Working Class“, deren Premiere im voll besetzten Kleinen Haus bejubelt wurde, verändern sich die Laien-Darsteller. Sie spielen sich selbst, nennen ihre Namen und durchschauen ihre Rollen in unserer Gesellschaft, die sich in der Corona-Krise als „systemrelevant“ entlarvt hätten. Der eine will schließlich seinen UPS-Job kündigen, eine andere endlich ein Studium als Erzieherin beginnen.

Alle Typen in durchgeschnittenen Jeans und Latzhosen sind authentisch, ebenso ihre teilweise selbstironischen Lebensberichte, die auf Interviews mit ihnen basieren. „Wenn wir die Arbeiterklasse sind, was macht denn die Klasse über uns? Arbeiten die da nicht mehr?“, fragt eine Frau. Jung und kraftvoll, zupackend und aufrüttelnd wirkt der von Bassam Ghazi inszenierte Theaterabend, der keine Sekunde in weinerliche Klagetöne abgleitet. Auch nicht dann, wenn sie nüchtern die soziale Herkunft von Hochschulabsolventen vortragen – 77 Prozent Akademikerkinder, 23 Prozent Arbeiterkinder.

Die Inszenierung ist ein Projekt des ‚Stadt-Kollektivs‘: Dies ist die Weiterentwicklung der „Bürgerbühne“, die Intendant Wilfried Schulz kreierte und 2016 von Dresden mit nach Düsseldorf brachte. Für das Thema „Working Class“ und Gastarbeiter hat der Stadt-Kollektiv-Leiter Bassam Ghazi einen literarisch-lyrischen Rahmen gewählt: Gedichte der Türkin Semra Ertan (1957-1982). Sie kam als Arbeitsmigrantin mit ihren Eltern nach Hamburg, arbeitete als Bauzeichnerin, Dolmetscherin und kritisierte den damaligen Rassismus in der Bundesrepublik den türkischen Arbeitsmigranten gegenüber. Ihr berühmt gewordenes Gedicht „Mein Name ist Ausländer“ – mit dem der Abend beginnt – las sie im Mai 1982 vor, als sie beim ZDF und NDR anrief und forderte, dass Ausländer das Recht hätten, als Menschen behandelt zu werden. Einen Tag später übergoss sie sich in Hamburg mit Benzin, zündete sich an und starb zwei Tage später an ihren Verbrennungen.

Wie ein Requiem für die verzweifelte Aktivistin Semra wirken die Momente, in denen sie von Semras Tragödie berichten und eine Darstellerin (Nadine Pitthan) aus der Szene heraustritt: Sie trägt leise, fast andächtig einige Verse vor – „Wofür leben die Menschen? Für die Arbeit, die Liebe, die Bildung?....“

Eine Abwechslung und einen ernüchternden Blick in heutige Arbeitswelten bieten die per Video eingeblendeten Interviews (geführt von Bassam Ghazi und Lasse Scheiba) über Arbeits-Alltage: So mit einem Schwarzen Altenpfleger, einer Krankenschwester auf der Dialyse-Station der Uniklinik und einer Frau, die sich nebenbei als Garderobiere im Schauspielhaus verdingen muss.

Diese temperamentvolle Performance mit „Experten aus der Wirklichkeit“ gehört zur Kategorie ‚Dokumentations-Theater‘. Ins Leben gerufen wurde dieses Genre vom deutsch-schweizerischen Künstlerkollektiv „Rimini Protokoll“. Sie arbeiten mit Theater-Laien, die aber nicht als Laien sondern als Darsteller ihrer selbst auftreten – als Experten des Alltags. Rimini-Protokoll brachte 2006 auf derselben Bühne (im Kleinen Haus) „Karl Marx: Das Kapital“ heraus – ein Werk und seine Einsichten, die, wen wundert’s, an diesem Abend keine unbedeutende Rolle spielen.

28. April, 20., 27. Mai, 10., 26. Juni. TEL 0211/ 36 99 11.