Jubel beim Ballett am Rhein für das düstere „Frühlingsopfer“ von Marcos Morau Eine apokalyptische Vision
DÜSSELDORF · Grau ist der Erdhaufen und voller Geröll. So, als ob eben erst ein Vulkan ausgebrochen oder eine Bombe eingeschlagen wäre. Auf diesem Schutt-Hügel versammeln sich Menschen, werden zu Massen, die sich aneinander festhalten, dann verknäueln und in einen Rausch tanzen.
So beginnt Marcos Morau sein „Frühlingsopfer“ – „Sacre du printemps“, das Igor Strawinsky vor 110 Jahren für das Ballet Russe kreierte: Bei der Pariser Uraufführung provozierte es einen handfesten Skandal, aber faszinierte ebenso einen Großteil des Publikums. Faszination und Begeisterung erntete jetzt auch die Uraufführung des spanischen Choreographen Marcos Morau, der mit massiver Bilder-Gewalt und düsteren Tableaus wachrüttelte und dem Publikum Ovationen entlockte.
Sein Opus ist das Kernstück des neuen Dreiteilers des Balletts am Rhein. Und mit „Sacre“ (Opfer, Weihe) auch Titelgeber des Abends; denn über Opfer im konkreten und übertragenen Sinn geht es auch in zwei weiteren Stücken. Im Vergleich zu Moraus Originalität verblassen jedoch die anderen.
Gefeiert wurde Morau, dessen ungewöhnlich dramatische Choreographien (mit Anlehnungen an Film-Ästhetik) international angesagt sind. Obwohl: Düster ist seine Botschaft und die aktuelle Deutung von Strawinskys „Bildern aus dem heidnischen Russland“. Und bieten nur wenig Versöhnliches. Frühling kennt Moraus Welt nicht mehr. Kulisse (Max Glaenzel) und Kostüme (Silvia Delagneau) bleiben – bis kurz vor Schluss – düster anthrazit. Immer wieder schwärmen die Gestalten los, klettern das graue Massiv empor, wissen nicht wohin und laufen irritiert zurück. Das Ritual mündet nicht mit einem Mädchenopfer, sondern in einem kollektiven Selbstmord: So rennt die gesamte Truppe im Finalakkord auf den Geröllhügel und stürzt sich ins Nichts.
Mit dieser apokalyptischen Vision stimmt der Choreograph mit der „Letzten Generation“ überein. Er will warnen, möglicherweise. Ähnlich wie der russische Tondichter 1913 am Vorabend des Ersten Weltkriegs, vor dem Grauen eines Weltenbrands. So ist Moraus Opus ein Beweis dafür, dass eine moderne „Sacre“-Fassung möglich ist – trotz der Kult-Choreographie von Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater. Wenn auch bei den Düsseldorfer Symphonikern unter Vitali Alekseenok nur selten Funken sprühen, so zeigen sich die Solisten des Rheinballetts in diesem Stück in Topform – sowohl tänzerisch als auch als Darsteller einer verzweifelten Generation.
Weniger klar indes werden Charaktere und Botschaft von „The Thing with Feathers“ (Die Sache mit den Federn), das Chefchoreograph Demis Volpi als Uraufführung an dem Abend herausbringt. Alles ist und bleibt in Bewegung und Entwicklung, wenn am Ende auch alle – bis auf einen Mann – eintauchen in einen immer größer werdenden Ozean. Volpi führt die Tänzer als Paare, in Gruppen und Soli durch einen erneut dunklen, leeren Kubus – zu den dahinfließenden Klängen von Richard Strauss‘ „Metamorphosen“. Als Frage bleibt, warum Volpi diese düstere Trauermusik wählte, die der „Rosenkavalier“-Komponist am Ende des Zweiten Weltkriegs verfasste. Diese in Streicherschwelgen gesetzte Klage – auch über die durch Bomben zerstörten Kultur-Tempel in Metropolen wie München und Wien – lässt sich schwer in klare Tanzbilder setzen. Sie verschwimmen oder vergehen so schnell wie die Strauss-Musik.
Eröffnet wird der Abend mit „The Cage“ – einem Klassiker von Jerome Robbins, das vor 70 Jahren in New York uraufgeführt wurde. Ein Riesen-Spinnennetz spannt sich über eine reine Frauen-Gesellschaft, die sich in streng abstrakten, manchmal virtuosen Schrittfolgen bewegen. In ihr Reich verirren sich (zu den Klängen von Strawinskys Concerto in D) nur zwei männliche Wesen. Sie verlieben sich in eine der Frauen, vereinen sich in federnden Pas-de-deux. Auf den Befehl einer allmächtigen Spinnenkönigin werden die gerade geliebten Männer fallen gelassen und mit gnadenlos durchgeführtem Genickbruch ins Jenseits befördert. Ob sie einem höheren Ziel geopfert oder einfach nur beseitigt werden? Das bleibt offen.