„Wilhelm Tell“ feiert umjubelte Premiere Das Leiden nach dem Tyrannenmord
DÜSSELDORF · Was muss der Einzelne, was kann eine Gruppe für die Freiheit tun? Wie können Menschen sich von einem Tyrannen befreien? So wie „Wilhelm Tell“ meint – ist „der Starke am mächtigsten allein“‘?
Oder würde er doch besser mit den anderen Tyrannen-Gegnern paktieren, um das Joch des grausigen Reichsvogts Gessner endgültig abzuschütteln? Fragen, die Roger Vontobel in seiner Neu-Deutung des gleichnamigen Schiller-Dramas in Düsseldorf nicht eindeutig beantwortet. Er überlässt das dem Zuschauer.
Mancher mag bei vielen Sätzen von Friedrich Schiller damals an Putins Ukraine-Krieg heute denken und an Angst vor Krieg und den Streit, der in vielen Familien um deutsche Waffenlieferungen entbrannt ist. Manche mögen sogar in Gedanken schon mal Tells Tyrannenmord durchgespielt haben. Doch dem Schweizer Erfolgs-Regisseur (früher Hausregisseur in Düsseldorf und Bochum) geht es in seinen Regietaten nie um vordergründige Aktualisierungen. Eher um existenzielle, grundsätzliche Fragen, die Schiller in diesem Fünfakter vor knapp 220 Jahren mit dem historisch überlieferten Schweizer National- und Befreiungshelden Tell verknüpft.
Vontobel, sein kongenialer Ausstatter Olaf Altmann und Gitarrist und Bandleader Keith O’ Brien straffen und verdichten das Schiller-Original, kleiden es in ein zeitloses Gewand mit sparsam eingesetzten historischen Zitaten. Und bieten einen spannenden, bewegenden und mit Rock und Rap angereicherten Theaterabend von pausenlosen 110 Minuten, der lange mit stehenden Ovationen gefeiert wurde. Nebenbei – so vehement und überwiegend maskenlos wie vor Corona.
Suggestiv teilt Altmann die Bühne in zwei Ebenen. Vom Bühnenhimmel senkt sich ein zweiter Boden herab. Er ist an Stahlseilen befestigt. Ganz oben zieht der Reichsvogt Gessner in silbrigem Glitzerlook (selbstherrlich und gefährlich: Heiko Raulin) seine Runden: Angeblich im Auftrag der Habsburger soll er damals (im 14. Jahrhundert) mit grausamen Mitteln deren Herrschaft über die Alpen-Bewohner sichern und sie in Schach halten. Der obere Boden samt Gessner und Entourage bedroht, wie ein sich lockernder Felsbrocken, die Personen unten: die freiheitsliebende Großbäuerin Stauffacher aus dem Kanton Schwyz und ihre stillen Verbündeten aus zwei anderen Kantonen, die unbedingt den Gessner loswerden wollen. Durch die sich langsam senkende Platte entstehen für die „da unten“ Zwangsräume, in denen sie nur noch gebückt kriechen können. Ein starkes Bild, das immer wiederkehrt. Um der tückischen Falle zu entkommen, müssen sie Gessners Gewaltherrschaft brechen, entscheiden sich zum Widerstand und leisten den bekannten Rütlischwur der Kantone Schwyz, Uri und Unterwalden. Viel bewirken sie nicht. Erst als sich Edelmann Ulrich von Rudenz (Kilian Ponert) die Lieben zu seiner Berta von Bruneck bedroht sieht, nimmt er seine Untertanen in Schutz und bietet, als Ebenbürtiger, Gessner die Stirn. Entscheidend aber wird der Moment, in dem Gessner den Einzelkämpfer Wilhelm Tell ins Visier nimmt. Und das obwohl Tell Widerstand gegen den „Herren“ ablehnt.
Gessner verlangt vom Meisterschützen Tell, sein Können zu beweisen, indem er mit seiner Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Kindes schießt. Florian Lange liefert in der Titelrolle das packende Porträt eines stoischen Einzelgängers und Vaters, der zittert und bebt, sich wie ein angeschossener Hirsch windet und schweißgebadet den unmenschlichen Befehl ausführt (mit glücklichem Ausgang), während die anderen Gessner verfluchen. Doch Tell ist allein.
Allein mit seiner Schuld bleibt Tell auch dann, wenn er nach dem berühmten Monolog („Durch diese hohle Gasse“) mit dem zweiten Pfeil den Tyrannen Gessner tötet. Doch er fühlt die Schuld, die mit dieser Tat verbunden ist. Während die anderen blutbeschmiert unten in einem rhythmischen Rap Tell als Befreier feiern, hockt er erstarrt und einsam – ganz oben auf der schrägen Wand wie auf einer unerreichbaren Vier- oder Fünf-Tausender-Bergspitze. Der Mord an einem Tyrannen bleibt für Tell ein Mord. Und macht ein normales Leben danach unmöglich. Mit dieser Metapher und erschütternden Einsicht geht ein intensiver und großer Theaterabend zu Ende.
Termine: 18., 25. Feb., 4., 12., 29. März. TEL: 0211/ 36 99 11