Interview Tony Cragg: „Ich bin jeden Tag im Atelier“

Tony Cragg, Wahl-Wuppertaler und weltbekannter britischer Bildhauer, über den Wert des Materials, Kunst im Außenbereich und seine Pläne für die Jahre nach dem 70. Geburtstag.

Von seinem Arbeitsplatz, dem Atelier mit seinen großen Fenstern, reicht der Blick weit – auf Wiesen, Felder und Bäume. Anfang des Jahrtausends hat Tony Cragg die ausgedienten Panzerhallen der ehemaligen Kaserne oberhalb des Campus Freudenberg umgebaut, sie mit neuem Leben und seiner Kunst gefüllt. Der weltbekannte Bildhauer, gebürtige Liverpooler, Wahl-Wuppertaler mit britischer und mittlerweile auch deutscher Staatsbürgerschaft hat sich hier eine Idylle geschaffen, die er sehr schätzt. Die er auch nach seinem 70. Geburtstag im April täglich aufsuchen wird, weil es ihm Spaß macht. Im Gespräch mit dieser Zeitung spricht er über seine Kunst, erklärt, warum er in Wuppertal geblieben ist und warum Kunst (auch) nach draußen gehört.

Herr Cragg, warum sind Sie nach Wuppertal gekommen und geblieben?

Tony Cragg: Ich bin 1977 nach Wuppertal gekommen, weil meine erste Frau von hier ist. Wuppertal ist ein sehr guter Ort für mich zum Arbeiten. Es gibt günstige und gute Räumlichkeiten, die sich als Atelier eignen. Meine Kinder sind hier aufgewachsen. Es war ein glücklicher Zufall, dass Ende der 70er Jahre eine Generation von Ausstellungsmachern nach neuen Künstlern suchte. Das passte gut, ich war gerade 30 und habe von hier aus eine relativ intensive Ausstellungstätigkeit begonnen. Schließlich erhielt ich 1979 einen Lehrauftrag an der Düsseldorfer Kunstakademie. Alles in allem war das sehr positiv für einen jungen Künstler und seine Familie. Aber ich sah auch keine Gründe zurückzugehen. Ich mag das Bergische, das berühmte Wuppertaler Klima ist genau das Richtige für einen Engländer (lacht).

Wie sind Sie von der Biochemie zur Kunst gekommen?

Cragg: Das stimmt so nicht. Ich war kein Wissenschaftler, sondern ein Schuljunge, der sich sehr für Wissenschaften interessierte und mit 17, 18 Jahren die Möglichkeit bekam, seine Ausbildung in einem Forschungslabor fortzusetzen. Ich war ein Labor­assistent. Damals wie heute interessiert mich, wie die Welt – Chemie, Physik – funktioniert.

Wie kamen Sie dann zur Kunst?

Cragg: Während in England die Jahre 1968/69 aufregend verliefen, überwachte ich im Labor ziemlich isoliert Experimente. So fing ich an zu zeichnen, allmählich interessierte mich das mehr als meine eigentliche Aufgabe. Jemand meinte, dass ich gar nicht so schlecht malte, und brachte mich auf die Idee, zur Kunstakademie zu gehen. Dort hatte ich allgemeine Kurse, zum Beispiel über Kunstdruck und Keramik, und eben auch zwei Wochen Bildhauerei. Und als ich erstmals etwas hergestellt hatte, fand ich das sofort total spannend.

Die Beschäftigung mit Material ist für Sie zentral.

Cragg: Es gibt nichts anderes als Material. Aber das Material ist komplexer, als wir es uns vorstellen. Es überrascht mich selbst, dass das nicht Lebensthema aller Menschen ist. Alles, was wir im Kopf haben, was wir können, kommt aus dem Material, wird geprägt durch unsere Erfahrungen mit unserer Umgebung.

Sie haben einmal gesagt: „Es gibt keine Form, die keinen Inhalt hat, und es gibt keinen Inhalt, der keine Form annimmt.“

Cragg: Wenn eine Form sich ändert, ändern sich unsere Ideen davon. Wenn sich etwa die Mimik eines Menschen ändert, wissen wir, dass sich seine Gefühle ändern. Das können wir lesen. Das ist vielleicht das einfachste Beispiel einer Beziehung von Ideen und Form. Genauso ist es, wenn wir die ganze Figur betrachten. Sie ist ein System von Signalen. Mit offenen Armen herumzulaufen, andere zu umarmen, signalisiert Zuneigung – eine Stadt wie Wuppertal, wo Pina Bausch gearbeitet hat, müsste diese Signale eigentlich sehr gut verstehen. Was für Gesicht und Figur gilt, gilt für alle Materialien. Sonst würden wir uns für unsere Umgebung nicht so viel Mühe geben. Wir sind emotional und intellektuell mit den Formen unserer Umgebung verbunden und von ihnen abhängig.

Haben Sie einen Lieblingswerkstoff als Bildhauer?

Cragg: Grundlage der Bildhauerei ist, wie Materialien auf uns wirken und was sie uns bedeuten. Der Bildhauer muss dem Material Bedeutung und Wert geben. Es ist eine traditionelle Vorstellung, dass er Marmor liebt. Marmor ist ein wunderbarer Werkstoff so wie alle anderen auch. Dabei ist die Vorstellung, einen Kopf aus Marmor, also aus einem Block Stein zu hauen, schon grauenvoll. Holz ist ein guter Werkstoff für das, was mich im Moment beschäftigt. Nicht, weil ich aus einem organischen Material etwas heraushauen will. Ich will nichts darstellen, das schon existiert. Darin sehe ich keinen Sinn. Mich interessieren Materialien, die mir die Möglichkeit geben, etwas über die Materie zu sagen.

Ist Ihnen wichtig, dass Ihre Kunst auch im Außenbereich steht?

Cragg: Es ist wichtig, dass Kunst überhaupt ein bisschen draußen steht. Sie ist selten im Stadtbild und auch in unserem natürlichen Umfeld. Eine Stadt besteht aus zusammengehauenen, rein funktionellen Formen. Meistens sehr einfach und langweilig. Dabei zeigt uns die Natur, was mit Formen möglich ist. In jedem Quadratmeter Wald ist mehr Form als in einer ganzen Stadt.

Gefährdet der 3D-Drucker die Bildhauerei?

Cragg: Für manche Künstler ist er eine neue Möglichkeit. Für mich nur bedingt, ich kann Vergrößerungen machen, Formen ineinander stellen. Vielleicht ist er in der Bildhauerei das, was die Erfindung der Fotografie vor 170 Jahren in der Malerei war. Man dachte, das wäre ihr Tod, dabei hat die Fotografie wichtige Impulse gegeben. Der 3D-Drucker ist ein Werkzeug, um bestimmte Sachen zu erreichen, und der Bildhauer nimmt immer den schärfsten Beitel. Aber im Moment arbeite ich an einer Anzahl Skulpturen und nur bei einer spielt irgendwelche Technik eine Rolle.

Sie arbeiten auch an Kirchenfenstern.

Cragg: Ich habe einen Entwurf für zwei Kirchen gemacht, zum ersten Mal, weil es mich interessiert hat. Ich habe seit den 80er Jahren Glasskulpturen gemacht, und eine fantastische Werkstatt hat mich gefragt. Ich habe viel gelernt dadurch.

Sie sind ein Weltstar mit typisch britischem Understatement.

Cragg: Das weiß ich nicht. Ich bin jeden Tag im Atelier. Ich habe einen selbstbestimmten Auftrag, meine Arbeit zu verfolgen. Alles, was passiert, hängt davon ab, was ich hier in meinem Atelier erreiche. Das ist keine Selbstdarstellung, mein Atelier ist keine Bühne.

Was ist britisch, was deutsch an Ihnen?

Cragg: Ein Gutteil ist britisch: Mein Humor, vielleicht auch meine empirische Denkweise, die auf den Erfahrungen in der realen Welt basiert. Andererseits hat mich in Deutschland von Anfang an der hohe Stellenwert der Skulptur fasziniert. Und die Ernsthaftigkeit, mit der man sich mit fast allem auseinandersetzt, fällt sehr auf.

Sie haben den Skulpturenpark Waldfrieden geschaffen.

Cragg: Vor 15 Jahren wollte Kulturdezernentin Drevermann eine Bildhauereiausstellung machen und ich schlug vor, das draußen in der Wuppertaler Umgebung zu realisieren. Ich recherchierte und entdeckte das ehemalige Gelände von Herberts, sah das Potenzial. Wir fingen mit kleinen Schritten an, und es wurde immer mehr. Der Park ist zur Erholung da, macht einfach Freude. Wir haben in über zehn Jahren 40 Ausstellungen hier gehabt. Der Park ist aber auch eine finanzielle Verpflichtung, die ich nur machen möchte, solange ich das tragen kann, das Atelier gut funktioniert.

Ihre aktuellen Pläne sind?

Cragg: In den nächsten Wochen beginnen wir mit 15 Außen­skulpturen für den Giardini die Boboli in Florenz, meine größte Ausstellung in diesem Jahr. Später im Jahr folgt eine Tour mit drei Museen in Brasilien und als Nächstes mache ich eine Ausstellung im Franz Marc-Museum in Kochel am See. Die nächsten zwei, drei Jahre sind voller Pläne.

Sie werden 70 Jahre am 9. April. Zeit, um kürzer zu treten?

Cragg: Ich habe über 50 Jahre mein Leben und meine Arbeit aufgebaut und das ist das, was mir am meisten Spaß macht, mich beschäftigt. Ich habe nie darüber nachgedacht, aufzuhören. Jede neue Arbeit, die man schafft, bringt eigentlich nur mehr Lust. Wenn man älter wird, geht das Leben natürlich nicht immer wie eine Excel-Kurve nach oben. Man wird sich Raum und Zeit bewusst, die man noch zur Verfügung hat, und will sie optimal ausnutzen.

Wird der Geburtstag gefeiert?

Cragg: Ja (stöhnt leicht), etwas mit meiner Familie, Atelier und Freunden. Im Allgemeinen haben mich meine Geburtstage nicht groß beschäftigt, aber mit 70 ist es ein bisschen wie beim Tüv. Man muss sehen, dass die Bremsen noch funktionieren und das Rücklicht noch angeht.