Meinung Die Kanzlerin und die „Ehe für alle“: Merkels fahrlässige Kehrtwende

Ob Angela Merkel sich darüber im Klaren gewesen ist, welche Lawine sie auf den letzten parlamentarischen Metern dieser Legislaturperiode auslösen würde, darf in diesem Fall einmal bezweifelt werden.

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Auf den ersten Blick war es ein taktisch extrem kluger Zug, in einer launigen Talkrunde die Entscheidung über die „Ehe für alle“ als Gewissensfrage zu deklarieren und es damit den Unionsabgeordneten freizustellen, ob sie zustimmen oder ablehnen. Auf den zweiten Blick ist das aber politisch grob fahrlässig gewesen. Merkel hat sich, die Union und die große Koalition massiv unter Druck gesetzt. Manch einer wird nun behaupten, das war Absicht, um das Thema zügig abzuräumen. Selbst wenn dem so sein sollte, dann sind die Kollateralschäden doch erheblich.

Aber zunächst zum Positiven. Merkel hat gemerkt, dass mit der bislang blockierenden Haltung der Unionsmehrheit bei der „Ehe für alle“ im Wahlkampf kein Punkt zu machen ist. Also ist sie einen Schritt zur Seite getreten und hat die Angelegenheit zur Gewissenfrage stilisiert. Damit wird sie, die großzügige Kanzlerin, politisch unbeschädigt bleiben - wie auch immer ihre Fraktion am Ende entscheidet.

Hinzu kommt, dass Merkel selbstverständlich nicht verborgen geblieben ist, dass alle potentiellen Partner angekündigt haben, ohne die „Ehe für alle“ nach der Bundestagswahl keinen Koalitionsvertrag unterschreiben zu wollen. Auch deshalb gibt sich die CDU-Chefin in dieser Frage auf einmal geschmeidig. Zugleich nimmt sie so, offenbar mit Rückendeckung der CSU, dem politischen Gegner die Munition. Ein schöner, aber nicht unbedeutender Nebeneffekt. Was alle vier Jahre System hat bei Merkel.

Wer nun in Jubelarien über das große Geschick der Kanzlerin einstimmt, übersieht die negativen Begleiterscheinungen: SPD und Opposition haben den Ball prompt aufgenommen und wollen noch in dieser Woche eine Abstimmung erzwingen. Damit hat Merkel augenscheinlich nicht gerechnet. Denn vereinbart war zwischen Union und SPD anderes, weshalb gestern schon vom Koalitionsbruch der Sozialdemokraten die Rede gewesen ist. Drei Monate vor der Wahl lohnt sich der jedoch nicht mehr. Kanzlerkandidat Schulz wittert freilich seine Chance, einen programmatischen Sieg zu erringen. Und es wäre einer für die Genossen, aber auch für die Opposition, falls der Bundestag den bereits vorliegenden Gesetzwurf beschließen sollte.

Übersehen hat Merkel zudem, dass sich bei der Union nun diejenigen kräftig die Augen reiben, die gegen die Ehe für alle sind oder zumindest Zweifel daran haben. Diese Parteifreunde hat Merkel im Handstreich desavouiert, nachdem man das Vorhaben erst vor kurzem wieder einmal im Parlament abgeblockt hatte. Atomausstieg, Abschaffung der Wehrpflicht, jetzt die gänzliche Auflösung des klassisch konservativen Instituts der Ehe, das freilich schwer zu halten gewesen ist - wer Merkel vorwirft, die Union kernlos gemacht zu haben, wird sich drei Monate vor der Wahl erneut bestätigt fühlen. Für so eine Parteichefin macht derjenige dann sicherlich gerne Wahlkampf, oder?