Martin Baltscheit „Kinderbücher sind ein Kulturgut“

Interview · Der Düsseldorfer Autor hat gerade das Grundgesetz kindgerecht illustriert. Ein Gespräch über Demokratie, Regeln, gute Zeiten und gute Bücher.

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“: In der Geschichte zu Artikel 3 des Grundgesetzes sorgt die Polizistin für Ordnung, als Hund, Vogel und Krokodil sich als Chef auf dem Spielplatz aufführen.

Foto: Martin Baltscheit

Die Fragen stellte Sabine Janssen

Herr Baltscheit, auf einer Familienfeier neulich im Restaurant brach ein Zweijähriger in Tränen aus, weil es kein W-Lan gab und er nicht am Smartphone spielen konnte. Brauchen wir überhaupt noch Kinderbücher?

Martin Baltscheit: Oh ja, unbedingt. Kinderbücher sind ein Kulturgut, das unseren Kindern zu wichtigen Entwicklungsschritten verhilft. Die sollten wir nicht verpassen. Ich sage immer: Das Bilderbuch ist die Mutter aller Künste. Es beinhaltet Literatur, bildende Kunst, Hörspiel, Theater und über seine sequenziellen Bilder auch Film. Es schafft die Grundlagen für jegliche Kultur. Das Bilderbuch kann aber noch mehr: Es schafft Nähe; man verbringt Zeit miteinander; man sitzt beisammen und erzählt sich Geschichten, ganz archaisch, wie einst am Lagerfeuer.

Wird Ihnen nicht angst und bange um die Zukunft des Lesens, wenn Sie all die jungen Menschen mit Smartphones sehen?

Baltscheit: Nein, wird es nicht. Das versandet in ein paar Jahren. Keine Angst vor den Medien! Wir sind neugierig; wir wollen uns fortbilden. Man sieht die Leute im Zug alle auf ihr Smartphone schauen; vor 100 Jahren saßen sie dort und lasen Zeitung. Das Smartphone ist wie ein neues Spielzeug, das allerdings nicht weit in die Tiefe reicht. Aber die menschliche Psyche hat sich ja nicht verändert. Wir brauchen Nähe, wir brauchen Abenteuer, wir brauchen Begegnungen mit Menschen, und deshalb brauchen wir auch die Bilderbuch-Inseln mit unseren Kindern.

Wie machen Sie das bei sich in der Familie?

Baltscheit: Das abendliche Vorlesen ist bei uns ein Ritual. Man muss sich als Familie Regeln geben, echte Rituale, sonst bleibt es schnell beim guten Willen. Ok, bei unseren 15-Jährigen lesen wir nicht mehr vor, aber bei den Kleineren. Das ist für mich eine heilige halbe Stunde.

Es gibt keine falschen Themen für Kinderbücher, sondern höchstens unpassende Erzählweisen. Würden Sie diese These so stehen lassen?

Baltscheit: Unbedingt. Alle Themen sind möglich; keine Geschichte ist zu banal. Es kommt darauf an, wie sie geschrieben und illustriert wird. Text und Bild können sich ergänzen, widersprechen, bestätigen, da sind unendliche viele intelligente Möglichkeiten, die die Kunst eines Bilderbuches erst ausmachen.

Sie haben gerade ein Buch über das Grundgesetz der Bundesrepublik geschrieben. Braucht es mehr politische Bücher für Kinder?

Baltscheit: Vielleicht nicht unbedingt mehr Politik, aber Geschichten für Kinder erklären immer etwas über das Leben, ob das nun Freundschaft, Verlust oder die Regeln des Zusammenlebens sind. Ich halte es für ex­­trem wichtig: Kinder müssen wissen, welche Regeln in unserem Land für unser Zusammenleben gelten und wie großartig diese Regeln sind. Ich träume davon, dass es Grundrechte-Wochen an den deutschen Schulen gibt. Ich hoffe, dass das Buch demnächst in die dritten Klassen der Grundschulen geht.

Um das Grundgesetz für Kinder verständlich zu machen, haben Sie eine Metapher gewählt: „Der allerbeste Spielplatz der Welt“. Es kommen alle möglichen Spielplatzbewohner und -besucher zu Wort: Ameisen, Hunde, Kinder, Rentner, Bestimmer, Krokodile, eine Polizistin … Ein bisschen ist es wie in den Fabeln von Jean de La Fontaine.

Baltscheit: Fabeln sind gute Mittel, um Kompliziertes einfach zu erklären. Noch dazu haben in einer Fabel die Tiere von vornherein bestimmte Eigenschaften. Dieses Personal schafft Nähe und vereinfacht auf kluge Art und Weise.

Im Buch geht es um die Würde des Menschen, das Recht auf freie, persönliche Entfaltung, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Asylrecht, um die Freiheit, den Rechtsweg einzuschlagen – welcher Artikel des Grundgesetzes war für Sie die härteste Nuss, um ihn kindgerecht zu erklären?

Baltscheit: Keiner. Ich habe zwölf Artikel ausgewählt. Ich hätte zu jedem mehrere Geschichten schreiben können. Die komplizierten, juristischen Sachen – wer wen wählt mit wie viel Stimmen in welches Organ – haben wir rausgelassen.

Steuern wir auf eine unpolitische Gesellschaft zu, in der jeder in seiner Blase lebt und sich gemeinsame politische Werte auflösen?

Baltscheit: Nein, überhaupt nicht. Ich sehe die großen Demos für Toleranz und gegen Rechts. Wir leben in einer funktionierenden Demokratie. Darauf können und sollten wir stolz sein. Ja, die Dinge dauern hier manchmal etwas länger. Na und? Deutschland war einmal ein Land der Unfreiheit. Jetzt gibt es hier Regeln, die für alle gleich gelten, für alle, die hier geboren sind und die zu uns kommen.

Sie haben 2009 ein politisches Buch für Jugendliche geschrieben, „Ich und die Kanzlerin“. Wie war die Resonanz?

Baltscheit: Das war ein tolles Projekt. Ich durfte für drei Tage im Kanzleramt hospitieren. Das hat meinen Blick auf die Bundesregierung komplett verändert. Dort arbeiten wirklich die Besten für unser Land, konzentriert, ruhig und mit viel Sachverstand. Das Buch ist leider gefloppt. Es war kein echtes, authentisches Praktikum. Vielleicht lag es daran.

„Der Fuchs, der den Verstand verlor“ (2010) war wie die Geschichten vom Grundgesetz eine Auftragsarbeit, wurde aber nicht von der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft veröffentlicht, gewann dann aber den Kinderliteraturpreis…

Baltscheit: … und drei weitere Preise. Ja, das war meinem Auftraggeber etwas zu wild. Es gibt darin ein sehr düsteres Bild von Hunden, die den alten Fuchs jagen. Ich war aber nicht beleidigt, als sie es ablehnten, und habe einen guten Verlag gefunden. Ich bin damit super zufrieden. Das Buch hat seinen Sinn erfüllt. Es zeigt Wirklichkeit auf, tröstet und macht Freude beim Lesen.

Was sind Zutaten für ein gutes Kinderbuch?

Baltscheit: Die Grundregel ist ganz einfach: Es gibt einen Helden, es gibt ein Problem, und das Buch ist die Lösung des Problems. Und es muss ein gutes Ende haben. Bei Lesungen fordern die Kinder das regelrecht ein. Ich übrigens auch.

Was ist bei Ihnen zuerst da: Wort oder Bild?

Baltscheit: Zu allererst die Idee zur Geschichte, dann schreibe ich einen Text, dann kommen die Bilder und dann passe ich den Text meistens noch mal an.

Finden Sie es albern, wenn Erwachsene Kinderbücher lesen?

Baltscheit: Kinderbücher sind für alle da. Sie entführen in eine virtuelle Welt, und wenn sie gut sind, haben sie verschiedene Ebenen, in denen sich jede und jeder wiederfindet. Kinder werden als Leser oft unterschätzt. Sie haben noch nicht so viele Regeln im Kopf wie ein Erwachsener. Deshalb kann die Literatur freier sein und einen magischen Realismus im Sinne von Gabriel García Márquez entfalten oder auch ganz ins Fantastische gehen. Da gibt es keine Grenzen.

Wird es einen Löwen geben, oder hat er alles gelernt?

Baltscheit: Mal sehen. Mein Verlag und ich setzen uns demnächst noch mal zusammen und schauen, ob wir ein gutes Thema finden. Aber es wird auf jeden Fall eine Fernsehreihe zum Löwen geben.

Woran arbeiten Sie gerade?

Baltscheit: Ich arbeite gerade an einem Buchprojekt zum „Mensch, ärgere dich nicht“-Spiel. Es geht um Gewinnen und Verlieren. Vor allem das Drama des Verlierens. Man sagt immer so leicht „Ist doch nur ein Spiel“, aber das stimmt nicht. Es ist die knallhart schlimmste Vorbereitung aufs Leben.

Sie haben 2022 in Düsseldorf „Plopp! Das Bilderbuchfestival“ angefangen. Gibt es auch schon ein Programm für dieses Jahr?

Baltscheit: Diesmal heißt das Thema: „Alles wird gut“ und wird am 24. November im Jungen Schauspiel an der Münsterstraße stattfinden. Es gibt Lesungen, Workshops und Theater mit vielen Kollegen und sehr vielen Bilderbüchern. Außerdem das alljährliche Zeichen-Battle, bei dem wir diesmal mit dem Publikum auf einer großen Leinwand ein ganzes Märchen malen.

Illustrationen: Martin Baltscheid

(saja )