Herr Wölfel, wie bedeutsam ist die direkte Bürgerbeteiligung für die Demokratie?
Bürgerbeteiligung Wie Bürger ganz konkret Demokratie leben können
Düsseldorf. · Volksinitiativen sind Mittel zur Teilhabe am demokratischen Prozess. Achim Wölfel, Sprecher des Vereins „Mehr Demokratie“ , erklärt, wie Bürgerbeteiligung funktioniert.
Ob Straßenausbaubeiträge, Gymnasialzeit oder mehr Platz für Radverkehr - das Mittel der Volksinitiative erlaubt es den Bürgern zwischen den im Fünfjahresturnus stattfindenden Kommunal- und Landtagswahlen, ihren konkreten Anliegen Gehör zu verschaffen.
Wölfel: Man kann die direktdemokratischen Verfahren in ihrer politischen Bedeutsamkeit kaum überschätzen, weil es eben darum geht, dass da ganz konkret Demokratie gelebt wird – abseits vom simplen Ankreuzen bei den Wahlen. Die Leute gehen in den demokratischen Prozess hinein, sie vernetzen sich, sie tauschen Argumente aus, sie müssen den Leuten auf der Straße erklären, warum sie für ihr Anliegen unterschreiben sollen. Da steckt sehr viel demokratisches Handwerkszeug drin. Ich denke, dass das ganz wertvoll für die Gesellschaft ist.
Welche Ziele verfolgt Ihr Verein „Mehr Demokratie“?
Wölfel: Es hat 1988 damit begonnen, dass sich Bürger zusammengefunden haben, die bundesweite Volksentscheide durchsetzen wollten. Das ist das übergeordnete Ziel unseres Vereins. Bis heute hat man dieses Ziel nicht erreichen können, aber auf dem Weg dahin hat sich der Verein thematisch aufgefächert. Zu den bundesweiten Volksentscheiden kamen Bürgerbeteiligungsverfahren und Transparenz hinzu. Transparenz muss bei politischen Entscheidungen sichergestellt werden. Mittlerweile haben wir in allen 16 Bundesländern direktdemokratische Verfahren – und die werden auch ziemlich rege genutzt. Wir beraten alle Initiativen, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Wir geben Hilfeleistung, dass die Fragestellung rechtlich zulässig ist und helfen bei Kampagnenarbeit.
Allerdings sieht man am Brexit, dass ein Volksentscheid nicht zwingend zu einem positiven Ergebnis führt.
Wölfel: Der Brexit wird immer als Beispiel dafür genommen, dass direkte Demokratie auch nach hinten losgehen kann. Dabei vergisst man häufig, dass wir hunderte Verfahren im Jahr haben, die alle einwandfrei funktionieren. Aber es ist richtig, der Brexit ist kein gutes Beispiel für ein sauber ausgestaltetes, direktdemokratisches Verfahren. Aber man kann sich auch an der Ausgestaltung des Verfahrens reiben. Die Meinung des Vereins ist, das Volksabstimmungen immer von unten, also aus der Mitte der Bevölkerung, kommen müssen. Das war in Großbritannien gerade nicht der Fall.
Warum wäre es besser gewesen, wenn die Bürger selbst über eine Abstimmung entschieden hätten?
Wölfel: Das würde den Charakter eines Verfahrens gänzlich ändern. Wer weiß, ob es überhaupt zu einer Abstimmung gekommen wäre, wenn nicht Regierende es beschlossen hätten. Der zweite Punkt ist, dass der Brexit ein unverbindliches Verfahren war. Es war im Prinzip eine Volksbefragung und von Anfang an stand zumindest juristisch fest, dass das Verfahren nicht verbindlich ist. Nur die Tories haben sich dem Verfahren verpflichtet gefühlt. Und dann hat man eben danach die Situation, dass eine Partei sich darauf beruft, dass es der Wille des Volkes sei und die anderen Parteien sagen, dass es nicht verbindlich war. Da herrscht eine ungemeine rechtliche Unsicherheit. Man hätte ein verbindliches Verfahren wählen sollen, wenn man überhaupt ein solches Verfahren wählt.
Um die Straßenausbaubeiträge abzuschaffen, hat der Bund der Steuerzahler kürzlich dem Landtag 437 000 Unterschriften übergeben. Wie viele Unterschriften sind notwendig?
Wölfel: Es gibt in NRW unterschiedliche Verfahren der Volksgesetzgebung. Einmal gibt es die Volksinitiative. Das ist das Verfahren, dass jetzt bei den Straßenbaubeiträgen und bei der Initiative „Aufbruch Fahrrad“ zum Einsatz kam. Dann gibt es das Volksbegehren. Der zentrale Unterschied ist, dass für die Volksinitiative weniger Unterschriften gesammelt werden müssen. Für die Initiative braucht man von 0,5 Prozent aller Abstimmungsberechtigten in NRW eine Unterschrift, das sind rund 66 000 Bürger. Bei dem Volksbegehren braucht man acht Prozent. Das sind ungefähr eine Million Bürger. Die Dimensionen sind schon ganz anders. Allerdings wird am Ende der Volksinitiative der Landtag nur dazu verpflichtet, sich zu dem Anliegen zu äußern. Beim Volksbegehren wird der Landtag gezwungen, das Volksbegehren zu übernehmen oder eine Volksentscheidung durchzuführen. Dann kommt es zur Wahl. Das ist bei der Volksinitiative nicht der Fall.
Wie organisieren sich die Unterstützer eines Verfahrens am besten?
Wölfel: Im Prinzip kann jeder als Privatperson, unabhängig von Vereinen und Parteien, eine Initiative auf den Weg zu bringen. Wenn man die Initiative beim Land anmeldet, müssen ein Vertretungsberechtigter und ein Stellvertreter benannt werden. Die müssen auf dem Unterschriftenbogen stehen, sonst ist der ungültig. Die 66000 Unterschriften zu sammeln, ist kein Kinderspiel. Da empfiehlt es sich, Bündnisse zu schmieden. Es gibt immer Gruppen, die die gleichen Ziele teilen.
Werden die Unterschriften immer noch mit Stift und Papier gesammelt – oder geht das auch digital?
Wölfel: Von digital sind wir weit entfernt. Die müssen immer noch auf Zetteln gesammelt werden. Es gibt bis dato noch kein Verfahren, das hundertprozentig sicher und gangbar ist. Und es gibt natürlich auch inhaltliche Gründe gegen die digitale Unterschriftensammlung. Die Regeln zur Volksinitiative unterscheiden sich übrigens von Bundesland zu Bundesland. In Bayern zum Beispiel kann man seine Unterschrift nur auf der Amtsstube abgeben. Da muss man tatsächlich ins Rathaus gehen. Das ist in NRW nicht der Fall. Hier kann man sich den Unterschriftenbogen ausdrucken, auf die Straße gehen und Unterschriften sammeln.
Wie ist der weitere Verlauf der Volksinitiative?
Wölfel: Nach Anmeldung der Initiative mit einem formlosen Schreiben bei der Landtagsverwaltung hat man ein Jahr Zeit, um die Unterschriften zu sammeln. Die Initiative muss thematisch zulässig sein. Man kann mit solchen direktdemokratischen Verfahren nur Themen anschneiden, die der Landtag entscheiden dürfte. Bei der Volksinitiative darf man jedes Thema auf die Agenda setzen. Beim Volksbegehren sind finanzwirksame Themen größtenteils ausgeschlossen. Es dürfen keine Abstimmungen über Besoldungs- und Abgabengesetze stattfinden. In anderen Bundesländern, zum Beispiel in Bayern, hingegen gibt es keine Themenausschlüsse. Finanzwirksam ist nach Auslegungssache sehr viel. Die Initiative zu den Straßenbaubeiträgen wäre als Volksbegehren definitiv nicht möglich gewesen. Aus unserer Sicht ist es allerdings schwer zu vermitteln, dass die Bürger nicht über Themen abstimmen dürfen, über die auch der Landtag abstimmen darf. Es gibt keine Themen, die zu kompliziert sind für die Bürger, sonst wären sie auch zu kompliziert für die Politiker.
Was passiert nach der Abgabe der Unterschriften?
Wölfel: Zuerst überprüft der Landtag die Unterschriften. Es dürfen nur die Menschen unterschreiben, die auch zur Landtagswahl wahlberechtigt wären. In der Regel gibt es keine Probleme. Manchmal ist ein Name nicht identifizierbar oder es haben Leute aus einem anderen Bundesland unterschrieben. Wir als Verein raten deshalb immer, zehn Prozent mehr Unterschriften zu sammeln. Im Anschluss, wenn die Gültigkeit festgestellt worden ist, ist der Landtag verpflichtet, sich innerhalb von drei Monaten mit diesem Anliegen zu befassen. Dazu eine Position zu beziehen, also kundzutun, warum man das Anliegen ablehnt oder gut findet.
Und dann war es das?
Wölfel: Im Prinzip ja. Das ist das Manko an diesem unverbindlichen Verfahren. Man kann so ein Thema auf die politische Agenda setzen, aber man kann den Landtag nicht zum Handeln zwingen. Das würde nur über das Volksbegehren funktionieren.
Inwiefern wird dennoch ein Mehrwert erreicht?
Wölfel: Das kann man an den Straßenbaubeiträgen sehen: In der Regel entfaltet so ein Bürgerbegehren über die rechtliche Wirkung hinaus eine breite politische Wirkung. Noch während der Unterschriftensammlung hat die Landesregierung angekündigt, die Straßenbaubeiträge neu zu regeln. Vorher war das kein drängendes Thema. Natürlich hätte die Landesregierung das Thema in drei Minuten abhaken können. Aber das ist ja auch mit Risiko verbunden. In diesem Fall hat es Verhalten geändert.
Gibt es ein weiteres Beispiel für einen erfolgreichen Eingriff in den politischen Gang der Dinge?
Wölfel: 2014 hat es eine kuriose, wenn auch nicht besonders witzige Geschichte gegeben. Eine kleine Gruppe stemmte eine Volksinitiative mit der Forderung, an Gymnasien in NRW wieder zur neunjährigen Schulzeit zurückzukehren. Der Landtag lehnte es ab. Ein Jahr später startete die gleiche Gruppe ein Volksbegehren, schaffte allerdings nur 630 000 Unterschriften. Es dauerte dann nicht mehr lange, bis die Landesregierung die Rückkehr zu G9 an Gymnasien beschlossen hat. Welchen Anteil diese Verfahren hatten, lässt sich natürlich nicht rekonstruieren. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass sie von den Politikern zur Kenntnis genommen wurden.