Pianist Krystian Zimerman wieder in Düsseldorf Die Rückkehr des Zauberers
Düsseldorf · Der Pole Krystian Zimerman gilt als einer der bedeutendsten Pianisten der Gegenwart. Zum ersten Mal seit 20 Jahren kommt er am 5. Oktober wieder in die Tonhalle.
Wir wissen noch nichts. Wir starren ins Trübe. Ein genaues Programm für den 5. Oktober, 20 Uhr, ist noch nicht verlautbart, es soll zu einem späteren Zeitpunkt angekündigt werden. Einstweilen müssen wir uns einzig an den Namen halten, aber der ist mehr als die halbe Miete. Er könnte womöglich auch die 15 zwei- und dreistimmigen Inventionen von Johann Sebastian Bach spielen, trotzdem würden die Leute noch aus Boppard und Vlissingen in die Düsseldorfer Tonhalle strömen. Weil dieser Pianist sozusagen der Inbegriff der Rarität ist. Und weil er ein Genie ist.
Die Rede ist von den 1956 geborenen polnischen Pianisten Krystian Zimerman. Manche halten ihn für den größten lebenden Künstler seines Fachs. Dieser Superlativ ist nicht zu hoch gegriffen. Was er in er Vergangenheit anpackte, das erstand wie eine neue Sicht auf ein Werk. Für diese Betrachtungen der Klavierliteratur braucht er natürlich Zeit, viel Zeit. Nur wenige Konzerte gibt Zimerman im Jahr, die überdies stets aufwendig sind, denn zu jedem Auftritt reist Zimerman mit dem eigenen Flügel an, um keine Überraschungen zu erleben und sich auf die individuelle Akustik eines jeden Saals einstellen zu können. Sein letzter Auftritt bei den Heinersdorff-Konzerten liegt genau 20 Jahre zurück. Ich erinnere mich, dass er damals Frédéric Chopins b-Moll-Sonate spielte und den „Trauermarsch“ als eine gewaltige Prozession ablegte, die aus der Ferne näherkam und sich dann wieder entfernte.
Zimermans Repertoire ist nicht riesig, doch immer wieder bereitet er den Hörern Überraschungen. Als er 1975 den legendären Chopin-Wettbewerb in Warschau gewann, schien alles auf eine Virtuosenlaufbahn hinzudeuten. Tatsächlich gibt es aus jenen Jahren Mitschnitte der Chopin-Balladen, die in ihrer poetischen Kraft bis heute nur selten übertroffen wurden. Aber schon früh erwies er sich als meisterlicher Beethoven-Interpret, etwa bei den Einspielungen der Klavierkonzerte mit Leonard Bernstein. Oder bei seiner Deutung der beiden Klavierkonzerte Chopins.
Doch spricht es für Zimermans perspektivische Kompetenz, dass seine bedeutendsten Aufnahmen in unerwarteten Geistesräumen entstanden. Wer sich also auf den Düsseldorfer Klavierabenden vorbereiten und dabei etwas für seine eigene Repertoire-Bildung tun möchte, der sollte sich mit Zimermans Aufnahme der beiden Bände der Debussy-Préludes beschäftigen. Wer dachte, dass nach den maßstabsetzenden Erkundungen durch Friedrich Gulda, Arturo Benedetti Michelangeli und Walter Gieseking kaum noch etwas Neues über diese wundervollen Werke mitgeteilt werden könnte, der sah sich bei Zimermanns Interpretation bei der Deutschen Grammophon, seinem Hauslabel, eines Besseren belehrt.
Als 1994 seine grandiose Einspielung herauskam, war einem sofort klar, dass da ein Schlüssel für eine bislang verschlossene Tür in Debussys Kosmos gefunden war. Zimerman gelang es nämlich, hinter allen vermeintlich impressionistischen Luftspiegelungen die Geschichte zu entdecken, die jedem dieser Préludes zugrunde liegt. Interpretation als erzählerischer Vorgang. Das Raffinement der Schlichtheit feiert hier einen Triumph; das Parfüm bleibt im Flacon. Zimermans Anschlagskultur ist atemberaubend.
Eine weitere Interpretation Zimermans, die einen olympischen Rang erreicht, hat ausgerechnet mit den letzten Klaviersonaten Franz Schuberts zu tun. Von ihnen glauben viele Musikfreunde, sie müssten eine geheimnisvolle Tür mit der Aufschrift „Spätwerk“ öffnen. Zutritt für Unbefugte untersagt. Demut scheint die einzige korrekte Haltung für die Betrachtung der angeblichen Testamente aus Schuberts Todesjahr 1828.
Vor diesem Klischee der Rezeption, der Spätwerkfalle, hat diese nun ausgerechnet Krystian Zimerman gerettet. Hier zeigt es sich, wie klug er beraten ist, dass er über Musik mehr nachdenkt, als dass er am Klavier sitzt. Vor allem hat er über die letzten beiden Schubert-Sonaten nachgedacht. Er bezweifelt, dass es sich um autobiografische Reflexe eines depressiven Syphilitikers handelt, der uns Zugang zu seinen Ahnungen und Abgründen gewährt. Für Zimerman befindet sich der späte Schubert unaufhaltsam auf dem Weg in die Moderne und erfindet dramaturgische Steigerungen, die sich zu gewaltigen Parabeln auswachsen. Die Geistesschärfe, Diskretion und zugleich Brillanz, mit denen Zimerman diese tönenden Wagnisse eines Komponisten ausleuchtet, der doch Lyriker war und immer blieb, machen auch diese CD bei der Deutschen Grammophon zum Ereignis.
Hört man sich bei Zimerman den zweiten Satz der Sonate A-Dur D 959 an, dieses seltsame Andantino, eins der größten Rätsel der Musikgeschichte, so wohnen wir fasziniert einem geplanten Kontrollverlust bei. Der Beginn – wunderbar macht der Künstler das klar – klammert sich wie mit Spinnenbeinchen an dieses dünne Gewebe in fis-Moll, dessen Bass keinen Boden findet, bis aus dem Nichts Zentrifugalkräfte einsetzen, das Netz zerreißen und die Musik durch die kühnsten Harmonien treiben. Diese chromatische Kurve führt zu einem Schlingerkurs, bei dem es kein Halten gibt und die Tonalität zu ächzen beginnt. Zimerman glaubt, dass dies nur einer im Zustand höchster Bewusstheit schreiben konnte. Gern erinnert der Pianist an die Tatsache, dass Schubert kurz vor seinem Tod 50 Kilometer zu Fuß nach Eisenstadt pilgerte, um Blumen auf Joseph Haydns Grab zu legen.
Zimermans Schubert lebt im Diesseits, er hat Klang, Volumen, Kraft, Majestät – und ein Lächeln. Mit einer extrem genauen Deutung der Partituren macht der Pianist klar, dass hier ein Kühner das Experiment durchführt, wie viel Eintrübung in Moll zwei Dur-Sonaten aushalten. Auch die B-Dur-Sonate D 960, Schuberts Allerletztes, hat ihre Albträume und Erschütterungen, doch kehrt die Musik unter Zimermans Händen am Ende zurück in einen unbeschwerten, heiteren Tonfall, der Abschied einstweilen für unmöglich deklariert.
In der Spätwerkskammer ist diesmal die Jalousie hochgezogen und das Fenster geöffnet, Sonnenlicht fällt herein. Und mit Krystian Zimerman schaut man hinaus und sieht nicht weniger als die Zukunft der Musik. Zimerman wird in Düsseldorf vermutlich weder Debussy noch Schubert spielen. So oder so: Der Abend könnte – als Rückkehr des Zauberers – ein Ereignis werden.