Die Mesusa als „Gedächtnisstütze“

Die Mesusa ist unsere dritte biblisch angebotene „Gedächtnisstütze“. In den vergangenen Wochen habe ich Ihnen über den Tallit mit den Zitzit und über die Tefillin berichtet. Alle drei „Gedächtnisstützen“ werden aus dem Text Dwarim (5.

Wuppertal

Foto: Fries, Stefan (fri)

Mose, 6, 4-9 + 11, 13-21) abgeleitet. Dieser Text wird von einem geschulten Toraschreiber sorgfältig auf Pergament geschrieben und in eine schlichte oder aber meist künstlerisch gestaltete Hülle aus Metall, Glas, Keramik, Holz oder sogar Plastik gerollt eingelegt. Das ist die Mesusa.

Auf der Außenseite der kleinen Rolle steht „Schaddai“, der Gottesname, der mit „der Allmächtige“ übersetzt wird. Da einige Hüllen eine kleine Öffnung haben, muss die Rolle so eingelegt werden, dass das „SCH“ zu sehen ist. Wenn die Hülle keine Öffnung hat, muss dieses „SCH“ auf dem Behälter sichtbar sein. Dieser Brauch ist darin begründet, dass für Juden jeder Buchstabe eine besonders tiefe Bedeutung hat. Ich habe schon erklärt, dass „Schaddai“ bedeutet: „Er, der den Elementen Grenzen setzt“. Es gibt noch eine andere Auslegung, und zwar „Schomer daltot Israel“. Das heißt: „Der Hüter der Tore Israels“. Diese Aussage geht auf die Erfahrung in der Nacht vor dem Auszug aus Ägypten zurück.

Damals musste jede Familie ein Lamm schlachten und das Blut an die Türpfosten streichen. Das war eine sehr mutige Tat, denn sie brachte zum Ausdruck, dass die Bewohner des Hauses sich von den Göttern Ägyptens abgewandt hatten und sich zu dem einen Gott ihrer Väter bekannten. Der Todesengel, der die Erstgeborenen Ägyptens tötete, übersprang (passach) die so gekennzeichneten Häuser. Juden sprechen von der Nacht der Bewahrung. Es war der erste Schritt aus der Versklavung in die Freiheit. Dieser Weg konnte und kann bis heute nur mit Gottes Hilfe erfolgreich gegangen werden. Daran sollen wir uns immer erinnern.

Leider erliegen wir Menschen oft der Versuchung, die Hilfe dieses abstrakten Gottes auf sichtbare Gegenstände zu übertragen, etwa, diesem Behälter mit dem „SCH“ magische Kräfte zuzuschreiben und ihn zu einem Amulett zu machen. Dagegen hat schon der große Gelehrte des 11. Jahrhunderts., Rabbi Mosche ben Maimon, sehr heftig gewettert.

Die oben erwähnten Verse aus 5. Mose 6,5-9 lauten: „Du sollst den Herrn, Deinen Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, deiner ganzen Lebenskraft und deinem ganzen Vermögen. Es seien die Worte, die ich dir heute anempfehle, in deinem Herzen. Lehre sie deinen Kindern! Sprich über sie, wenn du in deinem Hause sitzt und wenn du auf deinen Wegen gehst. Trage sie zum Zeichen auf deiner Hand und als Denkzeichen auf deiner Stirn und schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und deiner Tore.“

Als Mose diese (Abschieds-)Rede vor den Israeliten hielt, waren sie bereits fast vierzig Jahre lang durch die Wüste Sinai gezogen, lebten in Zelten und sicher konnten sich nur noch wenige an die Häuser in Ägypten erinnern. Diese Worte aber waren für die Zukunft gedacht, für eine Zeit, in der sie im ihnen verheißenen Land in Häusern umgeben von Höfen mit Zäunen und Toren und in befestigten Orten mit Stadttoren leben würden. Die Türbalken dieser Tore heißen einzeln „Mesusa“, daher ging dieser Name auf die „Gedächtnisstütze“ über.

Wie dieser Text nun aufzuschreiben sei, darüber haben die Gelehrten im Talmud seitenlange Diskussionen geführt, mit dem Ergebnis, das wir heute kennen. Allerdings gab es viele weitere Auseinandersetzungen darüber, in welcher Weise diese Behälter an die Pfosten anzubringen seien.

Da gab es zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bräuche bis sich die Art, in der wir es heute machen - am rechten Pfosten in Augenhöhe schräg nach innen weisend - durchgesetzt hat.

Wir alle kennen wohl den Spruch „Segne unseren Eingang und unseren Ausgang“.  Für Juden aber heißt es: „Wenn du in dein Haus kommst, erinnere dich, was Gott alles für dich getan hat und was du am Sinai versprochen hast, zu tun…!“. Der Passus „…wenn du auf deinen Wegen gehst…“ soll uns sagen: „Sei jederzeit bereit zum Aufbruch!“  Die Juden sind von jeher ein Volk in Bewegung. Schon Avraham folgte dem Ruf: „Geh aus deinem Vaterhause … in das Land, das ich dir zeigen werde!“  Die Zusammenfassung aller Weisungen heißt bei uns Juden „Halacha“ (der Weg). Der Prophet Micha sagt: „Es ist dem Menschen gesagt, was gut ist: Gerechtigkeit zu üben und demütig zu gehen mit deinem Gott.“ Nicht alle Diskussionen unserer Gelehrten wurden in den Lehrhäusern geführt. Zu allen Zeiten waren Lehrer unterwegs mit Menschen und zu den Menschen.

Dabei muss das „Auf-dem-Weg-sein“ nicht immer räumlich verstanden werden. Auch unser Denken kann uns von einem Ort zum anderen bringen, unseren Horizont erweitern und uns zu Problemlösungen verhelfen. Wenn wir dann bewusst in unsere Wohnung zurückkehren, muss uns klar sein, dass wir ein Gast in diesen Räumen sind, dass Besitz uns nicht dauerhaft glücklich macht, uns jedoch einen vorübergehenden Schutzraum bietet.

Gerade in dieser Zeit der Pandemie machen wir diese Erfahrung sehr deutlich. Aber wir sehnen uns auch nach Bewegung und nach der Möglichkeit, wieder aufbrechen zu können. Doch unsere Ziele sollten ein Beitrag sein zur Verbesserung unserer Welt und unsere Wege sollten Wege unter den Augen Gottes sein.