Kolumne Nevim (Propheten)

Die Vorsitzende des Gemeinderates der Jüdischen Kultusgemeinde über alte Geschichten, die uns noch heute viel zu sagen haben.

Wuppertal

Foto: Fries, Stefan (fri)

Wie schon in den vorherigen Artikeln erwähnt, ist „TeNaCh“ eine im Judentum geläufige Bezeichnung für die Hebräische Bibel. Der erste Buchstabe „T“ steht für „Tora“. Tora bedeutet: „Lehre, Weisung“ und umfasst neben der in der Hebräischen Bibel schriftlich vorliegenden Lehre auch die gesamte „mündliche Lehre“, die uns heute in den beiden Talmud-Ausgaben, dem Jerusalemer und dem Babylonischen, und vielen Responsen ebenfalls schriftlich vorliegt.

Der Kern und die Inspirationsquelle all dieser Kapitel (Bücher) sind jedoch die fünf Bücher Mose. Daher werden sie unter dem Ehrentitel „Tora“ an den Anfang der Hebräischen Bibel gestellt.

Heute beschäftigt uns der zweite Buchstabe im Begriff „TeNaCh“, das „N“, das für „Neviim“ (die Propheten) steht. Dazu gehören im hebräischen Kanon folgende Bücher: Josua, Richter, Samuel I+II, Könige I +II, Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Hosea, Joel, Amos, Ovadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi. Der Kanon ist etwa 300 v.d.ZT. abgeschlossen worden. Er wurde um 100 v.d.Zt. etwas revidiert und erhielt damit seine endgültige Fassung, die bis heute  so tradiert wird.

Der viel später zusammengestellte christliche Kanon hat eine andere Anordnung. Dort gehören die Bücher von Josua bis zu den Königen, das Buch Rut, die Bücher Chronik I +II und Esra und Nehemia zu den „Geschichtswerken“. Die Bücher Chronik, Esra und Nehemia und das Buch Rut gehören in der Hebräischen Bibel dagegen zum dritten Teil, den Schriften, genauso wie die Bücher Daniel und Klagelieder, die im christlichen Kanon bei den Propheten zu finden sind. Die Zweiteilung der Bücher Samuel, König und Chronik hat es ursprünglich nicht gegeben.

Wieso gibt es im christlichen Kanon „Geschichtswerke“, im jüdischen aber nicht? Mit dem Blick von außen zu einer späteren Zeit hat man den Inhalt der Bücher gewiss anders gelesen, andere Schwerpunkte gesetzt. Wer sich für die Geschichte der frühen Völker interessiert, weiß, dass es nirgends eine Geschichtsschreibung gegeben hat, wie wir sie heute verstehen. Es gab Stelen und Triumphbögen, auf denen große Siege verzeichnet wurden. Niederlagen wurden lieber schnell vergessen. Auch bei den Israeliten gab es keine kontinuierliche Geschichtsschreibung. Aber wichtige Ereignisse wurden erst mündlich tradiert und später aufgeschrieben. Was war besonders wichtig an diesen Ereignissen? Es war die Vergewisserung, dass Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der diese ehemaligen Sklaven vierzig Jahre lang durch die Wüste geführt hatte, dem sie sich bei Seiner Offenbarung am Sinai verpflichtet hatten, auch bei der Landnahme die Führung übernehmen würde. Dazu bedurfte es charismatischer Persönlichkeiten, die vom Geist Gottes und der Liebe zu ihrem Volk durchdrungen waren. Wenn etwas schief gegangen war (und das passierte oft), dann mussten sie die Kraft haben, das Volk vom verführerischen Götzendienst abzubringen und den Zorn Gottes zu besänftigen. Juden lesen die „Geschichtsbücher“ des christlichen Kanons bis heute unter dem Aspekt des ständigen Ringens dieses Volkes um den richtigen Weg. Dieser war mit vielen Niederlagen gepflastert, was auch nicht verschwiegen wurde. Juden nennen diese Bücher: „die frühen Propheten“. Sie sind mit den fünf Büchern Mose unmittelbar verbunden, denn Mose ist nicht nur unser größter Lehrer, sondern auch das Haupt der Propheten. Auch seine Geschwister Aharon und Mirjam und die Vorväter bis Avraham und Sarah hatten diese prophetische Gottesbeziehung.

Natürlich gab es auch bei den heidnischen Kulten Ekstatiker. Nicht umsonst wurde immer wieder vor falschen Propheten gewarnt. In der biblischen Prophetie ging es nicht um Wahrsagerei oder darum, den Herrschenden nach dem Mund zu reden. Das kam in der Königszeit durchaus vor, wurde aber von den echten Propheten scharf verurteilt.

Propheten waren Menschen, die sehr sensibel das Geschehen um sich herum beobachteten und die richtigen Schlüsse zogen. Sie waren, wie gesagt, durchdrungen von der Liebe zu Gott und zu ihrem Volk. Oft vernahmen sie in kritischen Situationen den Ruf Gottes, der ihnen die Aufgabe aufbürdete, ihr Volk vor dem Abgrund zu bewahren. Das machte sie nicht glücklich, meistens haben sie sehr gelitten und wurden sogar verfolgt. Wer setzt sich schon gern mit seinen Fehlern auseinander?

Da macht man doch lieber den Mahner mundtot. So gesehen haben wir Menschen uns in 5000 Jahren nicht geändert.

Wer sich aber für Menschen interessiert mit Visionen, Zivilcourage und einem Herzen, das für Liebe und Gerechtigkeit schlägt, sollte sich in diese alten Geschichten vertiefen, zumal sie oft in einer sehr poetischen Sprache geschrieben sind. Diese Menschen haben zwischen 1000 und 300 v.d.Zt. gelebt und gewirkt und haben uns bis heute noch viel zu sagen.