Kolumne Verbindender Geist in den Zerreißproben unserer Zeit?
Ruth Tutzinger, Vorsitzende des Gemeinderates der Jüdischen Kultusgemeinde, über den Schmuck der heiligen Bücher.
Pfingsten ist ein wunderliches Fest. Die christlichen Kirchen feiern an diesem Tag, dass Gott seinen Heiligen Geist den Menschen schenkte und schenkt. Mit einem gewissen Recht nennt man „Pfingsten“ auch den „Geburtstag der Kirche“. An diesem Tag begann die erste Gemeinde in Jerusalem zu wachsen.
Es wird erzählt, dass zum jüdischen Schawuot-Fest Menschen aus aller Herren Länder in Jerusalem versammelt waren, als der Heilige Geist die kleine Schar der Jesus-Anhänger zu begeisterten Zeugen machte. Die Türen öffneten sich und das Evangelium nahm seinen Lauf bis in die entferntesten Winkel der Erde. Noch „unschuldig“, tau(f)frisch war die „Kirche“, rein ein Werk dieses Geistes.
Das erste Wirken des Heiligen Geistes war, dass alle in Jerusalem die Jünger in ihrer je eigenen Sprache von Jesus erzählten hören. Gott wendet sich uns Menschen gnädig zu, indem er uns in unserer Muttersprache anspricht. Er geht auf uns ein. Holt uns da ab, wo wir stehen. Baut keine Hürden, keine Sprachbarrieren auf. Er spricht unsere Sprache. Wir sollen verstehen und von seinen großen Taten erfahren.
Und zugleich bringt der Heilige Geist Menschen zusammen, die einander eigentlich nicht verstehen können. Er schafft Verbindung und Verständigung ohne zu „uniformieren“. Er macht nicht alles gleich und verbindet nicht nur Gleiches mit Gleichem. Er bestärkt nicht „identitäre“ Bemühungen, die ihr eigenes vor allem vor „Fremdem“ meinen verteidigen zu müssen. Er zwingt nicht mit Gewalt in eine „Gemeinschaft“, wie es alle „Weltreiche“ taten und tun, sondern er hat die Kraft, gegenseitiges Verständnis zu schaffen und Interesse an- und füreinander zu wecken.
Gottes Geistkraft schafft eine Gemeinschaft, in der Vielfalt und Verschiedenheit nicht wie ein Spaltpilz wirken, sondern versöhnt mit- und nebeneinander gelebt werden können. Gottes Geist ist kein Geist der Einfalt, sondern der Eintracht. Kein Geist der Vereinzelung, sondern der Verbindung.
Unsere Gesellschaft steht vor vielen „Zerreißproben“. Wir drohen, obwohl wir alle „deutsch“ sprechen, einander nicht mehr zu verstehen. Wir brauchen Übersetzer. Wir brauchen jemanden, der hilft, die oft schablonenhafte, technokratisch-emotionsarme Sprache der Politik so zu übersetzen, dass verstanden wird: Hier mühen sich gewählte Mitmenschen um das Wohl unserer Gesellschaft. Wir brauchen jemanden, der hilft, die erschreckend emotionalisierenden Parolen mancher Demonstrationen so zu übersetzen, dass verstanden wird: Hier bringen, oft von Empörung überlagert, Mitmenschen ein ihnen wichtiges Anliegen vor. Wir brauchen aber auch jemanden, der messerscharf zu unterscheiden versteht, wo ein gefährlicher Ungeist sich eine latente Unzufriedenheit und diffuse Angst zunutze macht oder sich Machtmissbrauch hinter politischen Formeln versteckt.
Kurzum, wir brauchen einen Geist, der uns in den Zerreißproben unserer Zeit beieinander hält und uns hilft, einander verstehen zu wollen und zu verstehen. Und einen Geist der Wahrheit. Ist das nicht ein ganz weltliches Gebet um den Geist Gottes, ein Gebet um das Pfingstwunder?
Wo immer Menschen einander verstehen, sich um eine Sprache bemühen, die nicht spalten, sondern zusammenführen will, ohne in Uniform zu pressen, sehe ich Gottes Geist am Werk. Diese „fromme“ Sicht muss man nicht teilen. Der Heilige Geist schlägt nicht nur „religiöse“ Töne für „religiös“ Gestimmte an, sondern bringt auch „religiös“ völlig Unmusikalische zum Klingen. Der Clou ist, dass er beide immer wieder in Einklang bringt, nicht eintönig, sondern mehrstimmig, aber eben stimmig. Und so stimmen wir eine Symphonie an, die das Leben feiert.
Darauf hoffe ich – darum bete ich. Weil‘s schon mal wirklich wurde, feiere ich Pfingsten.