Ein Gesellschaftskleid aus Sanitätstüchern

Lotte Wirtz hat der Schützenkönigin 1947 für die erste Kirmes nach dem Krieg ein Kleid aus Stofflappen aus einem Care-Paket genäht.

Foto: J. Michaelis

Düsseldorf. Die größte Kirmes am Rhein, die gab es in Düsseldorf nicht immer. 1947, zwei Jahre nach Kriegsende, wurde zum ersten Mal wieder eine kleine Nachkriegskirmes am Rheinufer aufgebaut. Das Kleid für die Schützenkönigin zu dem gesellschaftliche Ereignis hat die damals 19-jährige Düsseldorferin Lotte Wirtz genäht — aus Sanitätslappen aus einem amerikanischen Care-Paket.

Richtig hübsch sei das Kleid geworden. Ein weißes und bodenlanges Gesellschaftskleid mit Blumen am Halsausschnitt. „Etwa 40 Stunden muss ich an der Nähmaschine gesessen haben. Das war schnell erledigt“, sagt die heute 88-jährige Lotte Wirtz. Sie wirkt sehr viel jünger als man es für eine Dame ihres Alters erwarten würde, lebt immer noch komplett selbstständig. Sie gehe gerne die fünf Etagen zu ihrer Wohnung zu Fuß, das halte sie fit.

Das Zusammennähen der einzelnen Lappen sei anspruchsvoll gewesen im Gegensatz zum Verarbeiten von Stoffbahnen. Die Schneidergesellin hat deshalb vorher einige Zeichnungen zu Papier gebracht. Die mechanische Nähmaschine, auf der sie das Kleid genäht hat, hat sie heute noch, ein schönes Exemplar von der Firma Pfaff. Ihre Nenntante hat sie ihre geschenkt.

Das Schützenpaar Hermann und Annemie Genova wohnte schräg gegenüber von Lotte Wirtz Elternhaus auf der Schwerinstraße. Als die Kirmes immer näher rückte, sprachen sie den Vater an, ob seine talentierte Tochter nicht etwas Schönes nähen konnte. „Die haben nun mal gesehen, dass ich immer so schick gekleidet war, ich habe mir ja damals einiges genäht aus dem, was es so gab.“ Das Schützenpaar Genova hatte eines der berühmten Care-Pakete der Amerikaner bekommen. Darin waren neben Fleisch, Kaffee und Mehl auch Sanitätstücher, quadratische Lappen aus einfachem, weißem Stoff. Die verwandelte Lotte Wirtz in ein Kleid.

Lotte Wirtz’ Tante, von der sie die Nähmaschine bekommen hat, war Amalie Seligmann, eine gute Freundin der Familie. Und eine Jüdin. Sie hatte Lotte die Nähmaschine geschenkt, weil sie so viel Freude daran hatte. „Sie war etwa so alt wie mein Vater und sie kannte mich, seit ich auf der Welt war“, erzählt Lotte Wirtz.

Die Tante äußerte offen ihr Missfallen, als Lotte ihr sagte, sie wolle Schneiderin werden, damit war sie gar nicht einverstanden. Die 14-Jährige begann dennoch die Lehre. Im November 1941 wurde Tante Amalie deportiert, in einen Zug gepfercht und nach Polen ins KZ gebracht. „Ich habe sie nie wieder gesehen. Mein Vater hat erfahren, dass sie mit vielen anderen durch einen Genickschuss gestorben ist.“

Die Kirmes 1947 war ein Moment der Unbeschwertheit in schweren Zeiten. „Sie war aber, offen gesagt, erbärmlich. Zumindest, wenn man von heutigen Maßstäben ausgeht.“ Gleich neben dem Eingang habe ein altes Männlein gestanden, das Obst aus seinem Garten verkauft hat. Gebrannte Mandeln gab es aber auch, zur großen Freude aller. Dann noch ein Karussell, eine Schießbude, Ponyreiten und ein Schützenfestzelt mit Musik, das klingt nach einem bescheidenen Fest.

Für die Düsseldorfer war es aber unendlich viel. „Wir haben am Kirmes-Montag fünf Reichsmark vom Arbeitgeber für den Kirmesbesuch bekommen. Das war das Größte.“ 1947 hat Lotte Wirtz als Meisterschülerin beim Modehaus Emilie Schneider gearbeitet.

Fotos von dem Kleid gibt es keine. „Das Fotografieren war uns ja verboten“, sagt Lotte Wirtz. Die Bilder hat sie nur noch im Kopf. Der Schützenverein St. Sebastianus hat durch einen Wasserschaden leider viele seiner alten Fotografien verloren. Bilder der Kirmes nach dem Krieg gehören dazu.

Ihr ganzes Leben lang hat Lotte Wirtz bei namhaften Unternehmen als Schneiderin gearbeitet, sie ist Meisterin der Haute Couture. Dass sie in diesem Fach ein großes Talent hat, ist schon in der Schule aufgefallen. „Meine Handarbeitslehrerin Frau Schiffer hat mich sehr gelobt und wollte meine Arbeiten in die Ausstellung der besten in einer anderen Schule bringen lassen. Aber in der Nacht davor wurde meine Schule ausgebombt und die Arbeiten waren hin.“

Heute geht sie nicht mehr auf die Kirmes. Zu viel sei ihr das alles, auch zu viel Verschwendung, zu viel Überfluss. Sicher, der große Rummel sei organisatorisch eine Meisterleistung und ein Aushängeschild für Düsseldorf. Manchmal geht sie mit einem Fernglas auf ihre Terrasse und schaut sich das Riesenrad an. Das reiche ihr dann an Kirmesluft.