Ballett-Tänzer: Fliegen wie die Engel
Bogdan Nicula spielt mit der Schwerkraft. Der 32-Jährige trainiert hart, und glaubt an Engel, weil sie für die Träume stehen.
Düsseldorf. Bogdan Nicula startet am linken Bühnenrand. Er rennt auf die andere Seite, rollt sich auf dem Boden ab und setzt zu einem Sprung an, der dem Publikum den Atem raubt. Das Bild, das kraft physischer Gesetze nur den Bruchteil einer Sekunde einnimmt, scheint die Zeit einzufrieren. Es überzieht die Sinne der Zuschauer mit der Sehnsucht nach existenzieller Leichtigkeit. Mit dem kindlichen Wunsch, es dem Tänzer gleichzutun. Die Bühne, den Saal, die ganze Welt hinter sich zu lassen und glückselige Unbeschwertheit zu finden. Bogdan Nicula fliegt der Erde davon wie ein Engel. Er ist zu beneiden.
„Einen Cappuccino bitte.“ Der 32-Jährige sitzt im Café und zieht an seiner Zigarette. Der Engel ist gelandet. Er hat einen Hund und mag Karaoke. Seit seinem achten Lebensjahr tanzt er, ohne, wie er meint, dafür eine natürliche Begabung zu haben. Im vergangenen Jahr kam er mit Choreograf Martin Schläpfer, dem neuen Ballettchef der Oper, nach Düsseldorf. „Bei Martin bin ich eigentlich nie auf dem Boden“, sagt Bogdan Nicula und lacht.
Der ungeheuer gelenkige Solist spielt immerzu mit der Schwerkraft. Und doch ist sein Entrelacé, wie die Figur im Fachjargon heißt, in dem Ballett „Kunst der Fuge“ etwas Besonderes. „Da muss ich in meine Tiefe gehen, an den grauen Platz in meinem Innern, wo meine Reise zur Sonne beginnt.“
Es ist der Moment, in dem sich der Tänzer aus Fleisch und Blut in ein ätherisches Wesen verwandelt. „Dieser Sprung ist nicht mehr technisch“, sagt Nicula, „er ist ein poetisches Statement.“ Das gelingt, wenn „alles in der richtigen Schublade ist“, Stimmung, Koordination, der Schlaf in der Nacht zuvor. „Dann habe ich für einen Augenblick wirklich das Gefühl, dass ich fliege. Es gibt keine Zuschauer, keine Wand, keine Scheinwerfer.“
Mit einem dramaturgischen Trick wird diese Illusion für die Wahrnehmung des Publikums ausgedehnt: Nicula drückt sich kurz vor einem musikalischen Akzent ab und kommt unmittelbar danach zu Boden. Sein Kopf aber steckt noch in den Wolken.
Martin Schläpfer hat diese Bilder erdacht und in Tanz gegossen. In seinen Choreografien erzählt er stets vom Mensch-in-der-Welt-und-außer-sich-sein. An Engel glaubt er nicht. „Ich mochte sie schon als Kind nicht am Weihnachtsbaum sehen.“
Ihn, der in dem Spannungsfeld einer religiösen Mutter und eines atheistischen Vaters aufwuchs, interessieren Gottvater und Christus. „Im Gegensatz zu den Engeln haben sie ein Resultat.“ Schläpfer stößt immer gleich zum Kern vor.
Die Auseinandersetzung mit dem Streben nach Transzendenz ist ein beständiges Thema in seinen Werken. Schwebezustände ziehen ihn an, haben ihn als ehemaligen Tänzer mit Glück und Zufriedenheit erfüllt. „Ich war ein extremer Springer. Für mich bedeutete Springen immer Freiheit. Angst hatte ich nie.“ Als Kind habe er davon geträumt, von der Beschleunigungsspirale der Eiskunstläufer mitgerissen zu werden, um, wie diese, erhabene Figuren aus Geschwindigkeit und Anmut zu formen.
Schläpfers Choreografien sind voller Symbolkraft, die erst das harte Training der Compagnie verstehbar macht. „Der Tanz braucht Distanz zur Natur, um im Geist etwas zu bewegen. Mit dem Ballett kann man alles sagen.“ Das ist Schläpfers tiefe Überzeugung.
Oft fallen ihm fehlende Lösungen kurz vor dem Einschlafen ein. Die Nacht ist ihm überhaupt eine angenehme Station. „Man kommt in einen Zustand, in dem man so müde wird, dass alle Haftungen von einem abfallen. Die Nacht ist wie der Vorreiter eines Tages, der nichts verlangt.“
Auch der junge Tänzer Bogdan Nicula hat sein Credo für die Bühne gefunden. „Bis zu einem gewissen Punkt denke ich mathematisch. Wenn ich aber Gefühl hinzugebe, dann habe ich die Chance zur Kunst.“ Und ja, vielleicht, fliege er in diesem kostbaren Augenblick wie die Engel. Nicula lächelt. „Jeder glaubt in gewisser Weise an sie, denn sie stehen für unsere Träume.“