Düsseldorf Claudia Ernst: „Beim Ballett tut vieles verdammt weh“
Die Ballettschule Pergel-Ernst bildet seit 70 Jahren junge Menschen zu Bühnentänzern aus. Ein hartes Programm.
Düsseldorf. Claudia Ernst musste früher ihre Eltern überzeugen, damit sie Tänzerin werden durfte. Wie das geht, also das mit den Eltern und der Verwirklichung eines Traums, wusste sie also schon, als sie 1995 die Ballettschule Pergel in Heerdt übernahm, wo aus begabten Kindern Bühnentänzer, Tanzpädagogen oder eben beides werden. Claudia Ernst wurde noch von Gizella Urban-Pergel und Ferencz Pergel unterrichtet. Das ungarische Tänzerpaar hatte die Schule an der Talstraße gegründet, als es sah, dass im Hinterhof Kinder auf Trümmern Ballettunterricht spielten. 70 Jahre ist das her.
WZ: Frau Ernst, Eltern schicken ihr Kind zum Ballett, obwohl es unbegabt ist oder keine Lust hat. Wie reden Sie ihnen das aus?
Ernst: Die Kinder oder Jugendlichen können ja Ballett machen. Das ist gut für den Körper und schult die Musikalität. Wenn sie jedoch für eine professionelle Ausbildung nicht geeignet sind, sagen wir das den Eltern. Und auch den Kindern. Da müssen wir Lehrer ehrlich sein.
Mit Drill kann man beim Sport viel erreichen, aber wie oft haben Sie echte Talente vor sich?
Ernst: Es gibt von ihnen nicht sehr viele, denn da müssen einige Faktoren zusammenkommen. Ein zukünftiger Bühnentänzer, zumal wenn er sich dem klassischen Tanz verschreiben möchte, muss einerseits ganz bestimmte körperliche Voraussetzungen erfüllen, tänzerische Intelligenz besitzen, musikalisch-rhythmisch und darstellerisch begabt sein und andererseits schon im Kindesalter eine ausgeprägte Leistungsbereitschaft zeigen. Dann kann guter, fundierter Unterricht dort ansetzen, dieses zarte Pflänzchen hegen und pflegen und schließlich das Talent entwickeln.
Die Kinder beginnen bei Ihnen mit zehn Jahren mit der Vorausbildung. Haben sie ernsthaft Freude daran, an der Stange zu stehen, während ihre Freunde draußen spielen?
Ernst: Ja. Schon sehr jungen Kindern merkt man die Begeisterung an, wenn es daran geht, etwas Neues zu lernen. Sie wollen so früh wie möglich Spitze tanzen und suchen förmlich die Herausforderung. Diese Kinder nehmen wir in unsere Begabtenklasse, also in die Vorausbildung, auf. Man muss beim Tanzen die Kinderjahre nutzen.
Deutschland ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht gerade dafür bekannt, eine exzellente Tanzausbildung anzubieten.
Ernst: Das ist richtig. Paris hatte schon 1661 seine erste Ballettakademie. Wir haben einfach nicht die Tradition wie Frankreich oder Russland. In St. Petersburg oder Moskau ist es selbstverständlich, die Tanzausbildung in den normalen Schulbetrieb zu integrieren. Die Jugendlichen dort beenden mit 18 oder 19 Jahren die Schule, haben das Abitur abgeschlossen und eine Erziehung im klassischen Tanz genossen. Das gibt es bei uns nur in Essen oder Berlin. Der Beruf des Tänzers ist in Deutschland gesellschaftlich nicht sehr hoch angesehen. Bei uns werden die Fußballer hofiert, in Russland die Tänzer. Das ist der Unterschied.
Die russische Schule ist allerdings auch ein hartes Programm.
Ernst: Stimmt. Deutsche Eltern fragen nach dem Ballettunterricht: Na, hast du Spaß gehabt? Russische Eltern fragen nach den Schwächen und sagen zu, dass es beim nächsten Mal besser klappt.
Und das soll gut sein?
Ernst: Formal dürfen die Kategorien „gut“ und „schlecht“ keine Rolle spielen. Drill hilft beim Tanz, denn man muss sich unterordnen. Vieles tut verdammt weh. Das muss man aushalten können und wollen. Ohne ein hohes Maß an Selbstbeherrschung funktioniert es nicht, denn nur die Besten werden beachtet. Nicht zu vergessen das Publikum: Es will eine gute Leistung sehen, und es ist dem Zuschauer egal, ob die Oma gestorben ist oder der Tänzer Liebeskummer hat.
Hört sich nach hochgezüchteten Ungeheuern an.
Ernst: So schlimm ist es nicht. Aber wer Hochleistungssport betreibt, muss hart zu sich sein. Und beim Tanzen kommt noch hinzu, dass niemand sehen soll, dass es sich um Höchstleistungssport handelt. Ein Marathonläufer schwitzt, das ist okay. Aber Tanz muss leicht aussehen. Wir erzählen Geschichten, verkaufen Illusionen.
Wie bringen Sie Ihren Schülern bei, alles zu geben?
Ernst: Wir versuchen, sie davon zu überzeugen, dass es auf die Qualität ankommt und Vervollkommnung Freude machen kann. Außerdem bringen die Schüler schon einen gewissen Ehrgeiz mit. Sie wollen wissen, warum sie nicht die Erstbesetzung in einem Stück sind, warum immer jemand anderer vorne steht. Wir machen ihnen klar, dass sie an ihren Schwächen arbeiten müssen. Sie erkennen sehr gut, worauf es ankommt, wenn sie zwei Mal im Jahr ein eigenes Stück choreografieren. Dann geht es um ihre eigene Idee, die adäquat in Bewegung umgesetzt werden soll. Eine Arabesque kann eben nun mal nur dann Sehnsucht ausdrücken, wenn sie perfekt ausgeführt wird.
Mit Ballett allein kann man doch heute keine Schule mehr führen, oder?
Ernst: Nein. Als Gizella Urban-Pergel und Ferencz Pergel unsere Schule vor 70 Jahren gegründet haben, gab es klassischen Tanz und Charakterfach. Das genügte, um an einem Theater oder in einer Kompanie engagiert zu werden. Aber der Markt hat sich geändert. Es gibt weniger freie Stellen und viel Konkurrenz aus dem Ausland.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ernst: Wir haben neben der Ausbildung zum Bühnentänzer die zum Tanzpädagogen hinzugenommen. Das haben die Gründer schon in den 1980er Jahren so entschieden. Heute bilden wir fast nur noch Tanzpädagogen aus und bieten von Jazz bis Flamenco alle Richtungen an. Klassischer Tanz ist allerdings nach wie vor unser Hauptfach.
. . . und der Ausgangspunkt für andere Tanz-Varianten.
Ernst: Ja, beim Ballett lernt man, wie man seinen Schwerpunkt beherrscht, ihn dirigiert. Wer das weiß, findet sich in jedem Stil zurecht.
Sie haben das Tanzen aufgegeben. Warum?
Ernst: Ich habe gegenüber meinen Eltern sehr darum gekämpft eine Tanzausbildung zu machen. Jedoch wollte ich von Anfang an am liebsten unterrichten. Für die Bühne wäre es ohnehin schwierig geworden. Mit 1,80 Meter bekam man damals nicht so leicht ein Engagement. Das ist heute anders.
Bleibt Ihnen heute noch Zeit zum Tanzen?
Ernst: Nein, leider nicht. Aber wer wie ich mit dem Herzen Tänzer ist, der wird es ewig vermissen.