Herr Göring, Sigmund Rosenbaum gelangt als jüdischer Waisenjunge in die Obhut einer katholischen Familie in Lippstadt. Als 1938 in Deutschland die Novemberpogrome beginnen, schickt ihn seine Familie über Düsseldorf nach England. Sigmund repräsentiert damit ein nicht allzu bekanntes Kapitel der Geschichte. Wie sind Sie darauf gestoßen?
Lesung „Flucht zieht sich durch Generationen immer wieder neu hindurch“
Düsseldorf · Interview Der Schriftsteller Micheal Göring präsentiert am Montag seinen neuen Roman „Hotel Dellbrück“ in der Bücherei Benrath.
Der Roman „Hotel Dellbrück“ handelt von einem der ersten Kindertransporte, die über Düsseldorf nach England führten und jüdische Kinder vor dem Holocaust retteten.
Der Schriftsteller und Chef der Zeit-Stiftung Michael Göring (62) erzählt in seinem Roman „Hotel Dellbrück“ von dem jüdischen Waisenjungen Sigmund Rosenbaum, der 1938 mit einem Kindertransporte nach Cornwall kommt und sich so vor dem Holocaust rettet. Es war einer der ersten Kindertransporte, die über Düsseldorf nach England führten. Am Montagabend stellt Göring sein Buch in der Bücherei Benrath vor. Wir sprachen mit dem Autor über Flüchtlingsschicksale von damals und heute und wie sich erlebte Traumata von Eltern auf ihre Kinder auswirken.
Michael Göring: Bei uns in der Zeit-Stiftung kam 2015 der Antrag, ob wir Interesse hätten, ein Denkmal zur Erinnerung an die Kindertransporte aus Hamburg vor dem Dammtor-Bahnhof zu fördern. Da habe ich mich dann noch einmal mit diesem Thema beschäftigt, das mich schon einmal berührt hat, als ich mich um die jüdische Geschichte meiner Heimatstadt Lippstadt gekümmert habe.
Wie genau kam es zu diesen Kindertransporten?
Göring: Die englische Zivilgesellschaft, vor allem Methodisten, Quäker, Katholiken und Juden, haben ihren Premierminister Neville Chamberlain bekniet. Er hat dann am 21. November 1938 ein Dekret unterschrieben, dass jüdische Kinder und Jugendliche aus Deutschland und Österreich nach England emigrieren können. Das ist sehr schnell umgesetzt worden. In Düsseldorf wurden die Kinder aus dem Rheinland und aus Westfalen gesammelt. Der Transport ging dann über Hoek van Holland und über den Ärmelkanal nach England.
Ihre Romanfigur Sigmund entkommt so auch dem Holocaust. Doch obwohl es ihm in England gut geht – er gelangt in eine wohlwollende Gastfamilie, besucht die Schule, studiert – kehrt er 1949 zurück nach Deutschland. Und bewirbt sich ausgerechnet an der Schule, an der er als Jude diffamiert wurde. Warum macht Sigmund das?
Göring: Da ist die Liebesbeziehung zu Rile, die Tochter des Hoteliers Dellbrück, mit der Sigmund groß geworden ist. Das Wunderbare bewegt so einen Menschen dazu, mit 23 Jahren doch nach Deutschland zurückzukehren. Sehr wichtig ist in diesem Buch aber auch die Findung einer Heimat, auch einer spirituellen Heimat.
Sigmund und Rile heiraten schließlich und haben einen gemeinsamen Sohn: Frido. Er „erbt“ nun das Trauma seines Vaters und muss damit umgehen. Frido tut sich aber schwer damit, verlässt Deutschland und reist nach Indien, später nach Australien. Flieht Frido vor der Vergangenheit seines Vaters?
Göring: Der Vater arbeitet ja im Verlaufe des Buches ungeheuer an dem Schicksal der Juden in Deutschland. Er fängt an „oral history“ zu betreiben, fasst Geschichten zusammen, wie es Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1945 ergangen ist. Sein Sohn möchte das nicht fortsetzen und fühlt sich auch dadurch unwohl, dass immer wieder mit dem Thema der Schuld gearbeitet wird. Und eine Befreiung für ihn sind dann schon diese Reisen.
Wird das Thema des sogenannten transgenerationalen Erbes – also die Erlebnisse und Erfahrungen, die Eltern an ihre Kinder weitergeben - grundsätzlich zu sehr vernachlässigt?
Göring: Das ist ein Thema, mit dem ich mich immer wieder beschäftigt habe, weil ich tatsächlich glaube, dass wir alle in unseren Rucksäcken Dinge haben, die wir da nicht selber hineingesteckt haben, sondern die uns da hineingesteckt wurden. Natürlich auch über das Genmaterial, aber darum geht es mir nicht, sondern um die Erfahrungen, die unsere Mütter oder Väter gemacht haben.
Ihr Roman schlägt aber auch eine Brücke in die Gegenwart: Frido kehrt 2018 zurück nach Lippstadt. Das Hotel Dellbrück, wo er seine Kindheit verbracht hatte, ist nun ein Flüchtlingsheim. Dort trifft Frido auf den 19-jährigen Djad, der aus Syrien geflohen ist. Spiegelt sich in Djad das Schicksal von Sigmund Rosenbaum aktuell wider?
Göring: Das ist genau mein Ziel gewesen, mit diesem Djad jemanden hinzustellen, wo sich der Leser denkt: Wir haben in Deutschland jetzt auch eine ganze Menge von jungen Leuten, die eine ähnliche Erfahrung durchgemacht haben wie damals dieser Sigmund. Das wollte ich so als Appell stehenlassen. Nicht mit erhobenem Zeigefinger. Ich will den Deutschen nicht sagen: Ihr müsst euch da mehr drum kümmern, die Engländer haben damals 10 000 deutsche jüdische Kinder aufgenommen. Ich möchte den Leser nur darauf aufmerksam machen, dass Flucht, die Erfahrung der Fremde etwas ist, was sich durch alle Generationen immer wieder neu hindurchzieht.
Info: In der Lesereihe „Montagsprosa in der Orangerie“ präsentiert Michael Göring in der Bücherei Benrath seinen Roman „Hotel Dellbrück“. Moderieren wird Karin Füllner. Beginn: 19.30 Uhr, Adresse: Urdenbacher Allee 6. Der Eintritt ist frei.