Theater Die Entdeckung des Himmels im Schauspielhaus: Szenische Lesung von über vier Stunden ermüdet
Düsseldorf · Im Schauspielhaus inszenierte Matthias Hartmann Harry Mulischs Großroman „Entdeckung des Himmels“ von fast 900 Seiten als deutsche Erstaufführung.
Der „Chef“ will den Pakt mit den Menschen aufkündigen, meint Cherub – ein Engel in weißem Cäsaren-Look. Will die Zehn Gebot zurück: Nach zwei Weltkriegen, Auschwitz und Vernichtungswaffen, die die Welt zerstören können, jetzt noch die künstliche Intelligenz Quinten Quist. Dem Schöpfer wird’s zu viel und er überlässt die Menschen Luzifer und der Hölle. Er nutzt Quinten Quist – den Sohn von Ada Brons und dem Privatgelehrten und Linguisten Onno Quist – um die in Stein gehauenen Tafeln aus der Bundeslade zu stehlen und zu zerstören. Weltendrama, Familientragödie, Freundschaftsepos und Fantasy-Thriller – widerstrebende Genres, die Harry Mulisch (1927-2010) in seinem Großroman „Die Entdeckung des Himmels“ vereinte. Weltweit als Meisterwerk bewertet, verglichen die Niederländer ihren Star-Autor gar mit Thomas Mann und Robert Musil. So wurde Mulischs Opus Maximum 2001 verfilmt (mit dem britischen Autor und Schauspieler Stephen Fry als Onno) und bescherte dem Autor zwar nicht den Nobelpreis, aber zahlreiche Preise und Ehrungen.
Der Bestseller von 1992, in dem Mulisch auf fast 900 Seiten eine Gesellschafts- und Familienchronik über knapp 70 Jahre entfaltet und sie verquickt mit politischen Veränderungen und dem Wertewandel der Nachkriegszeit, ist nun erstmals in deutscher Sprache in einem Schauspielhaus zu sehen. Matthias Hartmann, einst Burgtheater-Chef und gerühmt als Spezialist fürs Dramatisieren von Romanen und Erzählungen, wagt sich an den umfassenden Stoff. Ein Experiment, das angesichts der ausufernden Stofffülle in einem Stadttheater kaum gelingen kann.
Denn Mulischs zahlreiche Querverweise auf Wissenschaft, Geschichte, Mystik und Fantasy und das kunstvoll verwobene Freundschafts-Drama zwischen den ungleichen „Einlingen“ – Sternenforscher und Frauenheld Max Delius und Onno Quist – auf einen kurzweiligen Theaterabend zusammenzudampfen, könnte von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein. Selbst wenn, wie hier, mächtig gekürzt und überwiegend auf Handlung gesetzt wird.
Doch Hartmann bemüht keine traditionellen Sprechtheater-Kniffe, sondern rettet sich in eine szenische Lesung – angereichert mit sphärischer Live-Musik und Songs (Karsten Riedel) und Geräuschen (wie in Comics), illustrierenden Filmprojektionen und einer traumhaften Bühnen-Installation von Volker Hintermeier: ein elliptischer Bogen mit der Erdkugel, die später zum Mond wird. Wie schon bei Kleists „Michael Kohlhaas“, schrieben Hartmann und Dramaturg Robert Koall keine Theaterfassung, sondern bewahren Mulischs zweifellos brillante Erzählsprache. Häuf in indirekter Rede, aus der die Darsteller (überzeugend: Moritz Führmann als Max und Christian Erdmann als Onno) plötzlich heraustreten, ihre Blutsbrüderschaft zelebrieren, ihre Lebens- und Weltvorstellungen erklären, sich aber so ähnlich sind, dass sie dieselbe Frau lieben – Ada (Anna Sophie Friedmann). Zwei Männer, die sich zufällig treffen und für kurze Zeit unzertrennlich bleiben. Der zynische Frauenheld Max trennt sich sogar von Ada. Erst danach kommt sie mit dem zerstreuten Professor Onno zusammen. Eine Dreiecks-Geschichte, die gipfelt in einer überraschenden Schwangerschaft.
So lehnt sich das Publikum zurück und lauscht der Erzählung und manch dramatischen Schicksals-Wendungen. Locker, leicht wird geplaudert, atmosphärisch dicht erzählt. Fehlt nur ein Drink. Denn das Opus Summum dauert vier Stunden und 15 Minuten (mit einer Pause), fast so lang wie Wagners „Walküre“. Egal. Gottlob sind’s keine fünf oder sechs Stunden! Dann hätten Hartmann und seine hartgesottenen Mimen „Götterdämmerungs“- oder Festspiel-Format erreicht. Aber da gibt’s zwei Pausen.
Dennoch: Es lohnt sich! Steigt man in den Plot mit esoterischen Anspielungen ein und möchte man nicht unbedingt Mulischs Mystik verstehen, dann kommt keine Langeweile auf. Auch wenn man den Roman nicht kennt, taucht man ab und zu ein – in die Weltfülle, erfährt einiges von Mulischs Vision vom Untergang des Abendlandes und von seinem Kulturpessimismus, der heute genauso aktuell ist wie vor 30 Jahren, als das Buch erschien.
Erhellend können ebenso die autobiografischen Bezüge zwischen Autor und seinem Protagonisten Max sein – Mutter: Jüdin, Vater: NS-Offizier. Nicht neu, aber immer wieder erschreckend: die Geschichten von KZ und Zugfahrten ins Vernichtungslager. Heiter ironisch, dann wieder todernst wird die Reise nach Kuba dargestellt – zuerst im Flugzeug, dann im kommunistischen „Paradies“, an dessen Stränden sich Max und Ada wieder näherkommen. Dort zeugen sie vermutlich den Jungen Quinten, der später als Onnos Kind gilt. Zeitsprünge werden durch Einblendungen erklärt, so dass streckenweise dieser Theater-Marathon zu einem Hör- und Sehspiel mutiert.
Spannung wie im Krimi-Drehbuch – durch Fantasy-Elemente überspitzt und überhöht – bietet besonders der zweite Teil. Freilich fern von weltphilosophischer Tiefe. Nächtlicher Autounfall, bei dem die schwangere Ada so schwer verletzt wird, dass sie jahrelang im Koma liegt, dennoch später ihren Sohn zur Welt bringen kann. Mysteriöser Tod von Max, der durch einen Meteoriten erschlagen wird. Klar, dass dabei die Engel Seraph und Cherub (Serkan Kaya und Andreas Grothgar) ihre Hände im Spiel haben. Sie plappern munter drauflos und holen göttliche Botschaften runter auf Dünnbrett-Niveau, sprechen von Gott wie von einem Firmen-Boss. Sei’s drum.
Wie eine Erlöserfigur erscheint dann Quinten – als reine Lichtgestalt (mit langen Jesus-Haaren) und intellektueller Übermensch, der mit wenigen Monaten schon das Wort „Obelisk“ sprechen kann. Kurz danach ist das Wunderkind fertiger Mensch, hängt an einem Gitter-Globus mit ausgestreckten Armen (ähnlich wie in Leonardo da Vincis Zeichnung „Wiedergeburt der Anatomie“), keusch und ernst gespielt von Jonas Friedrich Leonhardi. Er trifft seinen vermeintlichen Vater Onno, als er bei einer Romreise im Lateran, im Sancta Sanctorum, „die Mitte der Welt“ entdeckt. Filmreif, manchmal auch kitschig, wirken viele Szenen mit dem Wunderknaben – auch wenn er, wie ferngesteuert, nach Jerusalem zieht, um seine Mission zu vollenden und ins ewige Licht überzugehen. Entmaterialisiert, versteht sich.
Fazit: Eine gelungene Mischung aus szenischer Lesung und atmosphärisch dichtem Hörspiel, das sich als Hörbuch gut verkaufen ließe. Vielleicht besser als ein Theaterabend von viereinviertel Stunden.
Termine: 24. Nov., 7., 17., 31. Dez., 5. Jan. 2020. Telefon: 0211/ 36 99 11