Düsseldorf Massendefekt: „Lass ja deine Griffel von meinem Song“
Was Musik machen mit Demokratie zu tun hat, sagen Massendefekt im Interview. Am 16. Februar erscheint das neue Album.
Düsseldorf. Massendefekt haben sich zur nächsten landesweit bekannten Band aus der, wenn man so will, Düsseldorfer Rockschule entwickelt. Ihr Album „Echos“ stand 2016 in den Charts. Und das soll nun auch der neuen Platte „Pazifik“ gelingen. Sänger Sebastian Beyer und Produzent Tim Schulte erklären den Stand der Dinge.
Herr Beyer, Herr Schulte, Massendefekt kommen aus Düsseldorf. Wir sind hier am Rhein. Nichts könnte weiter entfernt sein als ein Ozean. Warum also heißt das neue Album der Band „Pazifik“?
Sebastian Beyer: Der Titel war meine Idee - und lässt sich ganz simpel erklären: Ich habe einfach irgendetwas mit Weite, Größe und Tiefe gesucht. Da passte „Pazifik“.
Weite ist gut. Denn die Liste an Themen ist mit „Pazifik“ weiter geworden. Offensichtlich hat auch Sie nun der Politsong eingeholt. „Zwischen Löwen und Lämmern“ positioniert sich eindeutig gegen rechts.
Beyer: Richtig. Auch wenn wir schon auf dem letzten Album „Echos“ ein Stück hatten, das in diese Richtung ging. Aber das war nicht so eindeutig. Dieses Mal, unter anderem mit einer Textzeile wie „Egal ist 88“, in Anlehnung an den Nazicode für „Heil Hitler“, dachten wir, es ist einfach mal Zeit, so etwas aufs Album zu packen. Einfach ein bisschen mehr zu sagen und sich zu positionieren. Das ist ja leider wieder nötig geworden. Es ist wichtig, wieder lauter und konsequenter den Mund aufzumachen und nicht alles geschehen zu lassen.
Nun könnte man sagen, dass der Name Ihrer Band angesichts der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Lage besser passt als je zuvor. Der Massendefekt umgibt einen überall.
Beyer: Das ist interessant. Und ich kann diese Überlegung durchaus nachvollziehen. . ,
Aber?
Beyer: Aber ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Denn eigentlich ist ein Massendefekt ja ein Phänomen der Kernphysik. Da geht es um Protonen und Neutronen. So genau weiß ich das nicht. Wissen Sie: Ich habe mit dem Bandnamen nichts zu tun. Ich bin ja erst seit dem zweiten Konzert Mitglied.
Ist das so?
Beyer: Ja. Das erste Konzert fand statt im Rahmen eines Benefizprojektes in Meerbusch, für das sich Massendefekt eigentlich nur einmalig zusammengetan hatten. Damals trommelte Wölli, der mittlerweile ja leider verstorbene Schlagzeuger der Toten Hosen, noch bei der Band mit. Diesen Auftritt erlebte ich noch als Zuschauer und Kindergartenfreund der anderen. Ich kam erst kurz darauf als zweiter Gitarrist hinzu. Später wurde ich dann Sänger.
Wie viel von dieser Urversion der Band steckt denn heute, zu „Pazifik“-Zeiten, noch in Massendefekt?
Beyer: Ich glaube, wir sind jetzt wieder sehr nah an damals. Denn ich persönlich wollte es wieder etwas rotziger und dreckiger haben auf „Pazifik“. Nicht so aufgeräumt wie auf den Alben zuletzt. Das war zur jeweiligen Zeit zwar gut. Es wäre aber dieses Mal die falsche Wahl gewesen. Ich hatte Angst davor, dass „Pazifik“ zu poppig wird.
Sie mögen Pop nicht?
Beyer: Doch. Absolut! Aber diese, wenn man so will, punkrockige Attitüde, die unbedingt auf „Pazifik“ sollte und die uns dann doch ausmacht, ist in der Popmusik nicht vorhanden. Daher wäre es der falsche Ansatz gewesen. Glücklicherweise haben wir den Dreh gekriegt.
Wie denn?
Beyer: Weil wir wirklich noch nie so viel Arbeit in ein Album gesteckt und noch nie unter so viel Druck gearbeitet haben. Das alles spiegelt sich in den Songs und deren Rauheit wider.
Was bedeutet, Sie haben „unter Druck gearbeitet“?
Beyer: Ganz einfach: Wir mussten die Deadline einhalten und haben es auch tatsächlich auf den Tag genau geschafft. Wir haben bis zur letzten Sekunde an diesem und jenem Akkord noch herumgeschraubt. Und dabei kam es eben, wie es kommen musste: Plötzlich hast du zwei verschiedene Songvarianten und musst dich schleunigst entscheiden.
Das ist aber auch der Vorteile einer Deadline: Die Produktion einer Platte wird nicht zur Endlos-Angelegenheit, oder?
Tim Schulte: Es wäre trotzdem schön gewesen, zwischen dem kreativen Prozess des Songwritings und Aufnehmens sowie dem ganzen technischen Kram danach noch einmal in Ruhe in die Lieder hören zu können. Ich war am Ende sogar so weit, dass ich schon Probleme hatte, Songs und Texte zuzuordnen. Das war grenzwertig. Dabei ging es mir echt nicht mehr gut.
Vielleicht haben Sie zu viel Demokratie in der Band.
Beyer: Ehrlich gesagt: Ja. Das ist tatsächlich so. Wenn allen anderen ein Song gefällt und einer von uns sagt „Nein!“, dann stehen wir da.
Was macht der Produzent in so einem Fall?
Schulte: Der muss dann die Taktik des Aussitzens anwenden. Nach dem Motto: „Okay, Junge. Dann setz’ dich doch nochmal hin und denk nochmal drüber nach. . .“
Wie pflegeleicht sind Massendefekt denn für einen Produzenten?
Schulte: Wissen Sie: Es gibt ja Bands, die sagen einem: „Das ist meine Idee! Fummel’ mir nicht daran herum!“ Das ist schlecht. Weil ich dann nämlich als Produzent zum reinen Dienstleister werde. Und das wiederum passt nicht zu meinem Selbstverständnis als Mittler zwischen künstlerischer Arbeit und Produkt. Ich habe es lieber, wenn ein Künstler etwas macht und hinterher zu mir kommt und sagt: „Schau du doch nochmal drüber. Was hältst du davon?“ Dann bringt mir mein Gegenüber Vertrauen entgegen. Und so ist das auch mit Massendefekt. Die Zusammenarbeit macht wirklich Spaß — auch wenn es dieses Mal am Ende sehr steil hochging mit der Spannungskurve. . .
Wären Sie denn bereit, die Demokratie in der Band aufzugeben, um Entscheidungen in Zukunft schneller herbeizuführen?
Beyer: Nein. Es ist gut, dass es diese Demokratie gibt. Am Ende muss jeder von uns mit den Songs zufrieden sein. Am Ende machen wir alles gemeinsam. Auch wenn wir uns ganz bestimmt nicht immer einig sind. Ich meine: Wer hört schon gerne, wenn die anderen einem sagen: „Das, was du da machst, ist scheiße!“? Da kann die Situation schon mal explodieren.
Wann sind Sie denn bei den Aufnahmen zu „Pazifik“ explodiert?
Beyer: Gar nicht. Aber ich kann Ihnen ein Beispiel aus der Zeit unseres Albums „Tangodiesel“, das 2012 herauskam, nennen: Damals hatte ich für dieses Album einen sehr persönlichen Song geschrieben. In dem ging es um die Beziehung zu meiner Frau, in der es seinerzeit Probleme gab. Und es war schon schwierig für mich gewesen, diese Zeilen überhaupt zu Papier zu bringen. Und als ich dann den Text präsentierte, sagte einer aus der Band, dessen Namen ich jetzt nicht nenne: „Nee, das mache ich nicht. Da habe ich ja gar keinen Bock drauf. Da musst du nochmal ran.“ Ich dachte in dem Moment nur: „Du Arsch. Lass’ ja deine Griffel von meinem Song! Das ist mein Leben, um das es da geht!“ Das tat echt weh.
Was passierte denn mit dem Stück?
Beyer: Ich stecke es irgendwann auf mein Soloalbum. (lacht)