Konzert Wache Zuhörer beim besonderen Schlaflied
Düsseldorf · Standing ovations für den Komponisten Max Richter in der Tonhalle.
Max Richter, 1966 in Hameln geboren, ist in England aufgewachsen, hat in London und Edinburgh Klavier und Komposition studiert, lebt heute in Berlin. Sein Weg als Komponist führt über klassische und elektronische Musik, ist inspiriert von Minimal Music (Reich, Riley, Nyman) und geprägt von der Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft. „Während unsere Welt immer gefährlicher und lauter wird, möchte ich dieser skrupellosen Rhetorik mit einem stillen Protest begegnen“, sagt der Komponist.
Dazu bedient er sich auch des Mediums Film. Zu zahlreichen Filmen und Serien hat er Musik komponiert, so auch zur TV-Serie „The Leftovers“ nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Perrotta.
In der fast ausverkauften Tonhalle führte Richter mit seinem Ensemble, bestehend aus den sechs Musikern Elissa Lee und Yun Jin Cho, beide Violine, Joel Hunter, Viola, den beiden Cellisten Stefan Heinemeier und Hila Karni sowie der Sopranistin Grace Davidson durch ein fast dreistündiges Konzert. Er selbst lenkte die Performance mit klassischem Streichquintett und Sologesang vom Klavier und einer Elektronika aus.
Im ersten Teil des Abends wurde eine 45minütige Suite des Soundtracks zu „The Leftovers“ aufgeführt, stimmungsvoll in das Dunkel des Mendelssohn-Saales eingetaucht, von dezenten Lichtfarbwechseln auf der Bühne begleitet. Richter versteht seine Musik als synästhetisches Zusammenspiel von Farben, Klängen und Gefühlen, die auf einer Metaebene durchweg sphärisch agiert, allem Irdischen entzogen.
Wenn er sagt, seine Musik helfe einem, sich dem Leben an sich zu nähern, dann wohl mit der Absicht, den Zuhörer aus dem hektischen Alltag herauszuholen und in eine dem Irdischen entrückte Ebene zu befördern. So stützte der „irdische“ Streicherklang den sphärisch-schwebenden Gesang, während das Klavier mit einfachen Harmonie-Sequenzen das Geschehen kommentierte und variierte. Wechselnde Bilder, wie Sonnenuntergang, nächtliche Stille oder fernes Donnergrollen, vermittelten eine zerbrechliche Klangwelt, eine Gratwanderung zwischen Harmonie und Dissonanz, zwischen Klang und Stille, zwischen einfach klingenden Tonfolgen und vielschichtigen Klangflächen, „ein dichtes, mystisches, atmosphärisch-schwebendes Gesasmtkunstwerk“ (Zitat Ilona Schneider), eine Wanderung durch eine imaginäre Landschaft, friedvoll, achtsam und stoisch.
Der zweite Teil des Konzertes war der auf 90 Minuten reduzierten Nachtmusik „From Sleep“ gewidmet. Im Original dauert sie mehr als acht Stunden, eben eine ganze Nacht. Ein persönliches Schlaflied für eine immer hektischere Welt, ein Manifest der Verlangsamung der Existenz soll sie sein. „Ich hoffe, dass Menschen in Schlaf fallen, während sie es hören“, erklärt Richter. Nun, die Zuhörer waren sehr wach, aufmerksam und entspannt, ein schlafender Mensch wurde bei dieser Aufführung nicht gesichtet.
Die dunkle Tonhallenkuppel war mit Sternen geschmückt, die erst verloschen, als die Bühne vom gelben Licht einer vermeintlich aufgehenden Sonne erhellt wurde. Die Musik war letztendlich nur das „Material“, die Bilder entstanden im Kopf des Zuhörers, inspiriert durch statische Klangflächen mit elektronisch erzeugten Hall – eine neue Ästhetik der Wahrnehmung. Decrescendi wurden minutenlang ausgedehnt, ehe sie im Pianissimo endeten.
Richters Musik teilt nichts mit, sie ist selbst das Ereignis, das man in Echtzeit erlebt, wie eine lange Nacht oder einen Sonnenaufgang. Dass „Sleep“ die gleiche Absicht verfolgt wie Bachs „Goldberg-Variationen“, nämlich den zuhörenden Menschen in den Schlaf zu wiegen, unterstreicht Richters klassische Ambitionen: „Ich liebe das Gefühl, wenn mein bewusster Verstand auf Urlaub geht“.
Nach drei Stunden Konzert war der Urlaub zu Ende. Standing ovations.