Wohngemeinschaft Ehemalige Obdachlose starten in Hamm in ein neues Leben

Düsseldorf · Kai und seine Freunde machten Platte am NRW-Forum, bis sie im April eine WG bezogen. Vier von ihnen sind bereits im Job.

Eineinhalb Jahre lang lebte Kai auf der Straße, im April zog er in das Einfamilienhaus in Hamm. Er  musste erst einmal realisieren, dass er nun wieder ein Dach über dem Kopf hat. Nun ist er auf Jobsuche.

Foto: Ines Arnold

Kai weiß noch, wie er damals vor der verschlossenen Wohnungstür stand. Mit einem Rucksack voller dreckiger Arbeitsklamotten und der Erkenntnis, dass der Vermieter es dieses Mal ernst meinte. Den Job als Koch hatte er zu der Zeit noch, „aber wenn du da nicht geduscht auftauchst und nirgendwo deine Sachen waschen kannst, ist es ganz schnell vorbei damit“, sagt er. Die Nachricht vom Tod seines Vaters habe seine Motivation, schnell wieder auf die Füße zu kommen, im Keim erstickt. Kai fand sich damit ab, von nun an auf der Straße klarzukommen.

Im Winter machte er mit seinen Kollegen Platte am NRW-Forum - zum Unmut der Museumsleitung. Diese wollte den Platz räumen lassen und berief sich auf zahlreiche Besucherbeschwerden.

Die Stadtspitze verhinderte die Räumung und fand im April im Austausch mit den Franzfreunden und der Diakonie eine Lösung: Zwei Einfamilienhäuser in Hamm wurden für die Gruppe von acht Männern und zwei Frauen sowie ihre sechs Hunde hergerichtet. Die Häuser gehören der Stadt und wurden zuletzt als Flüchtlingsunterkunft genutzt.

Ein Sozialarbeiter besucht regelmäßig die WG

Kai brauchte erst mal einige Wochen, um zu realisieren, dass er nun wieder ein Dach über dem Kopf hat. Die WG richtete sich mit gespendeten Möbeln ein, organisierte Putz-, Küchen- und Einkaufsdienste und dekorierte die Wände. Lucy (Name geändert) bezog mit ihrem Lebensgefährten das Zimmer neben Kai. Sie hatte das Angebot, in ein Haus zu ziehen, zunächst für einen Scherz gehalten. Zumal ihre Anforderungen an eine Unterkunft ausnahmslos erfüllt wurden: „Für uns war klar, wir alle gehen nur gemeinsam und mit unseren Hunden“, sagt sie. In vielen anderen Unterkünften werden Frauen und Männer getrennt voneinander untergebracht, Hunde sind nicht erlaubt.

Heute wälzt sich ihr Bulldoggen-Mix Lotte auf dem Flickenteppich und kaut auf einem Hausschuh herum. Es ist kurz nach zehn, Lucy ist wie so oft schon früh auf den Beinen gewesen. Ihr Lebensgefährte ist mit dem Fahrrad unterwegs, „Besorgungen machen, von denen ich nichts wissen darf. Ich habe bald Geburtstag“, sagt sie. An der Wand über der Sofaecke hängen mehrere gerahmte Fotos. Eines davon zeigt einen schlafenden Säugling, ein anderes ein lachendes Kleinkind. Lucy zögert. Dann sagt sie: „Mein Sohn lebt bei seinem Vater, meine Tochter in einer Pflegefamilie.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Lucy von der Straße in eine Wohnung zog. Mehrfach landete sie zurück auf der Straße - jedes Mal wegen einer gescheiterten Beziehung. Zuletzt empfand sie die Rückkehr auf die Straße wie eine Befreiung, weil sie so „Drogen-, Alkoholkonflikten und Schlimmerem“ aus dem Weg ging. Dann lernte sie ihren jetzigen Freund kennen. Über dem gemeinsamen Bett hat der sich mit Edding und Buntstiften verewigt, Blumenranken und feine Ornamente in tagelanger Arbeit über die komplette Wand gezeichnet. „Er will Tätowierer werden“, sagt Lucy. Auf den Armen der Mitbewohner habe er sich bereits versucht.

Vier der insgesamt zehn Bewohner sind bereits wieder im Job. Andere sind auf der Suche. Unterstützt werden sie dabei von einem Sozialarbeiter der Diakonie, der auch für alle anderen Fragen bereitsteht, Behördengänge begleitet oder auch mal im Haus anpackt. Markus Well kommt regelmäßig vorbei und ist beeindruckt, wie gut die Wohngemeinschaften in beiden Häusern funktionieren. „Jeder Einzelne entwickelt sich gut. Und das zeigt mal wieder, dass eine Bleibe die Grundvoraussetzung dafür ist, wieder Fuß fassen, Ziele setzen und verfolgen zu können“, sagt er. Das Angebot, mit ihm auch über Suchtprobleme zu sprechen, ist freiwillig, und nicht jeder nimmt es in Anspruch. „Ich kann die Leute nur bei den Wegen begleiten und unterstützen, die sie selbst gehen wollen“, sagt der Sozialarbeiter.

Lotte hat sich derweil ein schattiges Plätzchen im Garten gesucht. „Für die Hunde ist es ideal“, sagt Kai. „Die können hier rein- und rauslaufen wie es ihnen gefällt.“ Beide Häuser haben einen großen Garten. Sie liegen am Ende eines langen Schotterweges, ringsherum sind Felder. An den Eingangstoren warnen Schilder vor den frei herumlaufenden Hunden, vor der Haustür von Kais und Lucys WG findet sich dann aber auf einem selbst bemalten Pappschild der Zusatz: „Vorsicht vor der Frau, der Hund ist harmlos“.

Bis April 2021 wird das Kais und Lucys Zuhause sein. Bis dahin, so hoffen alle Projektbeteiligten, sollen  alle Bewohner eine neue Bleibe-Perspektive haben. Im Idealfall auch wieder einen Job. Auch Kai hofft, dass er bald wieder Geld verdient, um sich spätestens im April 2021 eine Miete leisten zu können. „Ich könnte mir vorstellen, wieder als Koch zu arbeiten. Aber auch etwas ganz anderes wäre in Ordnung. Ein Tapetenwechsel ist vielleicht ganz gut“, sagt der 36-Jährige. Immerhin erhalte er, wie auch seine Mitbewohner, wieder Arbeitslosengeld.

Einblicke in das WG-Leben zu gewähren, ist für Kai in Ordnung. In seiner Privatsphäre fühlt er sich nicht gestört. „Wenn du wissen willst, wie es ist, dich wie ein Affe im Zoo zu fühlen, dann musst du als Obdachloser nur mal sonntagmittags den Reißverschluss deines Zeltes öffnen.“

Diese Zeiten seien nun glücklicherweise vorbei. Hoffentlich für immer.