Düsseldorf-Itter St. Martin: Marie und Anna singen sich durch Itter

Im Dorf wird noch beim Nachbarn gegripscht statt in Geschäften. Und auch die Erwachsenen pflegen ihre St.-Martins-Bräuche.

Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf-Itter. Kurz vor sechs teilt St. Martin seinen Mantel. Drei Minuten nach sechs schlüpft der Heilige dann durch das Rolltor in die Wache der Freiwilligen Feuerwehr, während sein weißes Ross von zwei Mädchen über die Itterstraße zurück Richtung Stall geführt wird. Vor dem Eingang der Wache dort steht bereits eine lange Schlange. Kinder mit bunten Laternen, Muttis, Vatis, Omas, Opas. Sie alle wollen bei St. Martin die vollen Tüten abholen, für das ganze Dorf zuvor gespendet hat.

Marie (10) und ihre Schwester Anna (5, aber fast 6) stehen ganz vorne in der Schlange. Papa hat ihnen einen Platz freigehalten, während sie beim Martinszug durch Itter waren. Jetzt muss er nach Hause. Gripschdienst. 20 Tütchen mit Süßkram sind vorsorglich gepackt. Hier gehen die Kinder noch zum Nachbarn statt in die Geschäfte. „Itter ist ein Dorf. Jeder kennt jeden“, sagt Mama Heike Dreher. Sie dreht sich um zu Marie: „Fangen wir bei Merle an?“ Die Zehnjährige marschiert bereits los: „Jau!“

An ihrem Laternenstab wackelt ihr Gesicht als schwarze Silhouette auf transparentem Papier. Ein ausgefallenes Modell — allerdings aus der vergangenen Saison. Marie ist aufs Gymnasium gekommen, dort ist man wohl zu erwachsen zum Laternenbasteln; also musste die aus der Grundschule noch mal ran. Anna trägt eine Papp-Schnecke mit leichtem Wackelkontakt vor sich her. „Die hab’ ich im Kindergarten gemacht.“

Vor der Haustür von Merle Gohr, Annas Patentante, drückt Anna auf die Klingel: „Zack!“ Heike Dreher fragt: „Was singen wir denn?“ und Marie antwortet: „St. Martin“. Die Mutter hat vorsichtshalber ein Textblatt in der Hand. „Aber wir werden jedes Jahr besser“, glaubt sie. Zwei Strophen bekommt Annas Patentante zu hören, bevor sie Kaubonbons in Maries Rucksack stopfen darf. Mehr geht nicht. „Sonst sind wir bis zehn unterwegs“, sagt Heike Dreher. Sie wendet sich zum Abschied Merle Gohr zu: „Bis später in der Garage!“

An Haus zwei gibt es für „Laterne, Laterne“ je eine Tafel Schokolade von Andrea Göhle für die zwei Mädels, in Haus drei reicht Ronald Hassel für „Ich geh’ mit meiner Laterne“ ein Tablett mit Schoko und Bonbons zum Selbstauswählen. Im vierten Haus serviert Doris Dierdorf endlich mal was Gesundes: Mandarinen noch mit frischem Grün dran.

Die Dreher-Damen klappern aber nicht nur ihre engsten Freunde ab. An ihrer fünften Station ragt eine Laterne aus dem Briefkasten. „Das ist das Zeichen, dass man hier singen kann“, erklärt Heike Dreher. Und auch gleich nebenan grinst eine Papiersonne aus dem Briefkasten. Dieses Haus ist Pflichtstation. „Jetzt kommt Heidi“, sagt Dreher. Die Tür öffnet ein weißhaariger Mann. Heinz-Dieter Fiege — kurz Heidi. Gegen „Laterne, Laterne“ gibt es für die Töchter Süßes und für die Mutter Selbstgebrannten — so wird man zur Pflichtstation. „Bist du später in der Garage?“, fragt Heidi zum Abschied. Heike Dreher bejaht. Und die Reporterin beginnt sich zu wundern.

Aber nur bis zum nächsten Haus, dem von Elfriede Schaller. Sie lupft eine weiße Plastikplane vor der Einfahrt in ihre Garage — und dahinter kommen Bänke mit Kissen, alte Bilder und bunte Lichterketten zum Vorschein. Hier trifft sich das erwachsene Itter, wenn es ausgegripscht hat. „Jeder bringt was mit, ich habe schon Muzen gebacken“, sagt Elfriede Schaller. „Ein Fässchen Bier kommt und Killepitsch.“

Doch vorderhand bestreitet Heike Dreher das Gripsch-Finale bei Maries Patentante Christa Richter. Anna muss sich schon räuspern für „Abends wenn es dunkel wird“. Hier gibt es traditionell kleine Weckmänner. „Seit 47 Jahren backe ich die“, sagt die 71-Jährige. „Früher hatten wir 120 Kinder in der Straße — und alle haben einen bekommen.“ Heute backt sie noch 70. Aber nicht nur fürs Gripschen. „Auch für später in der Garage!“ Natürlich.

Die Endstation ist nach einer Stunde Singen zu Hause. „Welches Lied kriegt der Papa?“, fragt Heike Dreher. Marie muss nicht lang überlegen: „Hier wohnt ein reicher Mann!“ In der Küche beißt Anna dann schon mal in ihren Tante-Christa-Weckmann, während die Ausbeute auf die Waage kommt: Exakt 2,3 Kilo Naschwerk pro Mädchennase. Marie und Anna strahlen. Heike Dreher allerdings weiß schon, dass sie die Reste in ein paar Wochen spenden wird. Ihre Mädels sind gar nicht so die Süßen. Sie singen einfach nur gern.